Nieshäufigkeit, Sexqualität, Chipskonsum: Tausende von Amerikanern wollen ihr Leben verbessern, indem sie es ordentlich dokumentieren.

Reportage: Akiko Lachenmann (alm)

New York - Marie Dupuch war früher launisch. Mal fand sie das Leben schön, mal war es die Hölle. "Und das aus unerfindlichen Gründen", erzählt sie vor ungefähr hundert Zuhörern in einem Gemeindezentrum in Downtown New York. Sie begann daher, sich selbst zu analysieren und ihre Stimmungen mehrmals am Tag auf einer Skala von eins bis fünf zu notieren - zunächst auf gelben Post-its, später in ihr eigens entwickeltes Smartphone-App "Moodtracker", etwa zu übersetzen mit Stimmungsbarometer.

 

Zu jedem Eintrag notierte sie, was sie gerade machte, mit wem sie zusammen war, an welchem Ort sie sich befand. Bis sie Zusammenhänge entdeckte: Immer donnerstags, nach der Marketing-Vorlesung, ging es ihr blendend. Oder: immer wenn sie ihre Schwester sah, war sie danach übel gelaunt. "Ich arbeite heute für eine Werbefirma und meide, so gut es geht, meine Schwester", schließt sie ihren Vortrag.

Insgesamt sechs Redner dürfen beim heutigen Treffen der New Yorker Gruppe "Quantified self" (übersetzt: quantifiziertes Selbst) ihre Studien vorstellen. Der Andrang ist wie immer groß. Medienvertreter und Headhunter mischen sich unter das Volk, denn was hier jeden Monat besprochen wird, klingt visionär: Selbstvermessung, auch "Bodyhacking" oder "Lifelogging" genannt, kann die Lebensqualität erhöhen.

Exotische Anwendungen für das Smartphone

Davon sind mittlerweile nicht nur Tausende von Amerikanern überzeugt. Auch die Computerindustrie schürt das Interesse mit immer handlicheren Messgeräten und immer exotischeren Anwendungen für das Smartphone - dem wichtigsten Begleiter eines Selbstvermessers. Die Bewegung wächst vor allem in US-Großstädten wie San Francisco und New York, wo viele technologiegläubige Menschen leben.

Gemessen wird alles, was das menschliche Wesen an Daten hergibt, sei es die Qualität des Sex oder der Ph-Wert des Urins, seien es die Ausgaben bei Starbucks oder die gemeinsamen Stunden mit dem Nachwuchs. Vor allem wenn es um die eigene Gesundheit geht, ist die Bereitschaft groß, sich täglich in Tabellen und Diagrammen zu verlieren.

Da werden dann Nikotinkonsum und Kalorienverbrauch korreliert oder Schlafkurven für geringe Arbeitsleistungen verantwortlich gemacht. Derzeit wartet die Szene gespannt auf die Markteinführung von "Basis", einer Art Armbanduhr, die Aktivität, Herzfrequenz, Körpertemperatur und Durchblutung messen und bei Stresssymptomen Alarm schlagen soll.

Fotos im 10-Sekunden-Takt

Pionierarbeit leistete vor allem der berühmte Informatiker Gordon Bell, der wegen heftiger Angina-Attacken bereits vor zwanzig Jahren versuchte, Ernährung, Bewegung und Schlafqualität mit seinen Angina-Symptomen in Zusammenhang zu bringen. Später dehnte er seine Datensammlung auf den Rest seines Lebens aus. Mit allerhand elektronischem Gerät hielt er zehn Jahre seines Lebens in gigantischen Dateien fest: Alle zehn Sekunden fotografierte er mit einer kleinen Kamera, die ständig um den Hals hing, seine Umgebung.

Er speicherte seine abgelaufenen Wege, nahm Telefonate auf und fotografierte alles Papier, das er in Händen hielt. In seinem Buch "Total Recall" schreibt Bell, dass das Gehirn, das ohnehin nicht in der Lage sei, die Vergangenheit vollständig zu speichern, besser lernen und kreativer arbeiten könne, wenn es keine Memoiren mehr zu schreiben braucht.

Die jüngere Generation der Bodyhacker hat zwar viele Methoden von Bell übernommen, verfolgt aber konkretere Ziele als der heute 77-Jährige. Wie beispielsweise Corey Maass, ein weiterer Redner, der früher ständig pleite war. Nach monatelanger Analyse seines Kaufverhaltens kam er zu dem Schluss, alles nur noch bar zu bezahlen und mehrere Sparkonten zu eröffnen, "auf denen ich Geld vor mir verstecke", wie er erklärt. Außerdem hat er ein Programm entwickelt, das dem Anwender stündlich eine E-Mail zusendet mit Tipps und Diagrammen über die bisherigen Ausgaben - die dieser natürlich jedes Mal an der Kasse in sein Smartphone eingeben muss.

Bekenntnisse einer rückblickenden Datensammlerin

Auch Catherine Hopper hat die Erkenntnisse ihrer Selbstanalyse radikal umgesetzt. Sie habe dazu geneigt, ihre Zeit mit "sinnlosen Dingen zu vergeuden", sagt sie in ihrem Vortrag. Deshalb verwaltet sie seit vier Jahren ihr Leben mit einem Kalender, in dem jede Stunde mit einer Aktivität belegt ist. Das beginnt mit der Morgentoilette, der sie eine halbe Stunde widmet, bis zur zwanzigminütigen Gymnastik vor dem Schlafengehen. Der Kalender ist lückenlos gefüllt - Büroarbeit, Einkauf, die Tochter von der Schule abholen, Handstand üben, selbst für das "Nichtstun" hat sie Zeitfenster eingeräumt.

An jede Aktivität erinnert sie zehn Minuten vorher das Klingeln ihres Smartphones, und sei es die Gutenachtgeschichte für die Tochter. Obwohl sie drei Stunden damit verbringt, die nächste Woche zu planen, hat sie nun das Gefühl, ihre Zeit effizienter zu gestalten. "Wobei es natürlich Tage gibt, an denen ich den Kalender verwerfe und mit meinen Freundinnen zum Einkaufen fahre", sagt sie.

Manchmal kann die Macht der Zahlen aber auch überhandnehmen. Alexandra Carmichael, eine Ex-Selbstvermesserin, beschreibt in einem Gedicht, wie sie über das Sammeln von Daten allmählich das Vertrauen in ihre eigenen Instinkte und ihre Intuition verloren habe. Ellie Harrison veröffentlichte sogar ein Buch ("Bekenntnisse einer rückblickenden Datensammlerin"), in dem sie bezeugt, dass der tägliche Umgang mit Zahlen das Leben austrocknen kann. Sie bezeichnet sich selbst als geheilt und arbeitet heute als Künstlerin, die systemkritische Fragen aufwirft.

Der Mensch auf dem Prüfstand

Gründervater Schon Benjamin Franklin studierte das eigene Verhalten, um seinem Ziel, nämlich nach höchsten moralischen Maßstäben zu leben, näherzukommen. Täglich überprüfte er sein Verhalten auf 13 Tugenden, von der Mäßigung bis hin zur Demut. Im Laufe der Zeit kristallisierte sich dabei heraus, woran er am meisten arbeiten musste.

Gegenwart Über ihre Erfahrungen tauschen sich Selbstvermesser vor allem auf der Internetseite www.quantifiedself.com aus. Dort befinden sich auch Links zu sämtlichen Gruppen weltweit. In Deutschland steckt die Bewegung mit zwei winzigen Gruppen in Berlin und München noch in den Kinderschuhen.