Keiner hat die Leichtathletik mehr geprägt als Usain Bolt. Bei der WM in London verabschiedet sich der Wunderläufer aus Jamaika von der großen Bühne – und niemand weiß, wer künftig in seine Rolle schlüpfen könnte.

London/Stuttgart - An einem Sommertag des Jahres 2004 sitzt Usain Bolt auf der Tribüne des Nationalstadions von Kingston und denkt über seine Zukunft nach. Kurz vorher hat der 17-Jährige mit einem Junioren-Weltrekord über 200 Meter (19,93 Sekunden) die Leichtathletik-Welt zum zweiten Mal in Aufruhr versetzt, nachdem er zwei Jahre vorher jüngster Junioren-Weltmeister geworden war. Jetzt spricht Bolt darüber, was als nächstes kommen könnte. Auch über die 400 Meter wolle er künftig angreifen, sagt der Schlaks von beinahe zwei Meter Größe – „nur für die 100 Meter bin ich nicht geeignet. Da bin ich zu groß.“

 

Es ist die vielleicht größte Fehleinschätzung in der Geschichte des Sports. Was nicht daran liegt, dass er für die 400 Meter dann doch zu faul ist.

13 Jahre, acht Olympiasiege, elf WM-Titel und drei Weltrekorde später verabschiedet sich nicht nur der schnellste Läufer aller Zeiten, sondern auch einer der größten Athleten, die der Sport je gesehen hat. Bei der Weltmeisterschaft in London bestreitet Usain Bolt am Samstagabend seinen letzten 100-Meter-Lauf, dem eine Woche später noch die 4 x 100-Meter-Staffel folgen soll. Dann ist Schluss, dann tritt er, kurz vor seinem 31. Geburtstag, in den Ruhestand. Und die gesamte Leichtathletik, die keiner vor ihm so geprägt hat wie er, rätselt, wie es ohne ihn weitergehen soll. Einen wie ihn wird es nicht mehr geben.

Den 100-Meter-Lauf, diesen mythischen Wettkampf der schnellsten Menschen der Welt, das Duell hochgezüchteter Rennmaschinen in hautengen Ganzkörperanzügen, hat Bolt zu einer gigantischen One-Man-Show gemacht. Mit wehendem Shirt und offenen Schnürsenkeln lief er zum Weltrekord. Und joggte grinsend über die Ziellinie, weit vor den chronisch überführten Dopern mit ihren Muskelbergen und den grimmigen Mienen. Es war eine Offenbarung, dieser erste Olympiasieg in Peking 2008, der Auftakt einer sagenhaften Siegesserie.

Ein einziges Scheitern

Ein einziges Scheitern erlaubte sich Usain Bolt im Anschluss: Bei der Weltmeisterschaft 2011 in Daegu (Südkorea) wurde er im 100-Meter-Finale wegen eines Fehlstarts disqualifiziert. Doch machte dieses kurze Zucken im Startblock das eigene Denkmal nur noch größer. Der einzige Mensch, der ihn aufhalten konnte, das war er selbst. Ein paar Tage später gewann er die Goldmedaille über 200 Meter.

Neun Finals bestritt Usain Bolt bei Olympischen Spielen, neunmal lief er als Erster ins Ziel. Ein positiver Dopingtest seines Teamkollegen Nesta Carter nahm ihm nachträglich das Staffelgold von 2008 und damit auch das historische „Triple-triple“, das er vergangenes Jahr in Rio gefeiert hatte.

Selbstredend hat das Thema Doping auch Usain Bolt seit seinen Anfängen auf Gras-Laufbahnen in Kingston begleitet. Ist es wirklich möglich, dass ein Mensch ohne verbotene Hilfsmittel 100 Meter in 9,58 Sekunden läuft? Warum sollte ausgerechnet der Schnellste von allen sauber sein, wo doch so gut wie alle anderen 100-Meter-Weltmeister und -Olympiasieger früher oder später als Betrüger enttarnt wurden? Bolt ist oft getestet und nie überführt worden, er hat alle Vorwürfe stets von sich gewiesen – und irgendwann festgestellt, dass er sich nicht mehr rechtfertigen muss.

Egal ob nun alles mit rechten Dingen zugegangen ist oder nicht – das Verblüffende ist: Das Publikum kann sich tatsächlich vorstellen, dass Usain Bolt nicht gedopt hat. Es berauscht sich an der Idee, dass da wirklich ein menschliches Wunder rennt, einer, der in der Lage ist, die Grenzen des Vorstellbaren zu verschieben. In einer Zeit, in der die Leichtathletik durch unzählige Dopingskandale in ihren Grundfesten erschüttert wurde und jeder Sieger unter Generalverdacht steht, hat Bolt seinem Sport damit einen großen Dienst erwiesen: Er gab den Leuten den Glauben, dass auch ohne Doping Unmögliches möglich ist. Nicht wenige sehen in Bolt nicht weniger als den Retter der Leichtathletik.

Phänomen Bolt

Legionen von Leistungsdagnostikern, Biomechanikern, Genetikern und anderen Wissenschaftlern haben jahrelang versucht, dem Phänomen Bolt auf die Spur zu kommen. Mal wurden seine langen Beine und das Beuge- und Streckvermögen seiner Füße als Erklärung herangezogen, mal der Anteil schneller Muskelfasern. Es gibt noch viele andere Theorien. Usain Bolt selbst hat sich darüber nie größere Gedanken gemacht. Es gebe kein Geheimnis, sagt er, er sei einfach schon immer schnell zu Fuß gewesen und habe Spaß am Laufen gehabt. Auch das ein Grund für seine globale Popularität: die Aura der Unbesiegbarkeit paarte sich mit dem Anschein spielerischer Leichtigkeit. „In meinem ganzen Leben habe ich noch keinen Sportler, neben Muhammad Ali, erlebt, der die Menschen so in seinen Bann gezogen hat“, sagt Sebastian Coe, der Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes.

Eine letzte Mission bleibt noch, der Abschlusssieg in London. Sein Körper zwickt inzwischen, von den früheren 100-Meter-Zeiten ist Usain Bolt weit entfernt. Mit einer Jahresbestzeit von 9,95 Sekunden ist er nur als Siebter zur WM gekommen, was ihn nicht weiter kümmert: „Ich bin noch immer der Schnellste, ohne Zweifel.“

So oder so, Usain Bolt wird als Legende abtreten. Schon jetzt freut sich der Frauenheld und Fastfoodfreund auf das süße Leben. Harte Zeiten dagegen stehen der Leichtathletik bevor.