Zwischen „Midnight Rambler“ und dem „Lied der Schlümpfe“: Uwe Kopfs Debütroman „Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe“, der wenige Monate nach dem Tod des Autors erscheint, erzählt von einem, der mit vierzig Jahren glaubt, dass nichts mehr kommen wird in seinem Leben.

Freizeit & Unterhaltung : Gunther Reinhardt (gun)

Stuttgart - Als Uwe Kopf Anfang der 1990er Jahre Redakteur bei „Tempo“ war, einer Zeitschrift, die man heute wohl als Hipstermagazin bezeichnen würde, schrieb er seinen Mitarbeitern einen freundlichen Brief. Darin verriet er den Autoren, welchen „Wortschrott“ er in Manuskripten für den Kulturteil des Hefts künftig nicht mehr lesen wolle. Auf seiner Liste standen Ausdrücke wie mitnichten, zweifelsohne, schlechthin oder dankenswerterweise. Er behauptete, wer ständig das Wort man benutze, sei „entweder feige, schlampig oder ahnungslos“, und stellte klar, dass der Mensch nicht dadurch Filmkritiker wird, dass er einen Film nacherzählt. Den Rezensenten von Rockmusik drohte dieser eigentlich überaus umgängliche Mensch sogar dezent Schläge an, falls sie weiterhin von „sägenden Gitarren“ schwärmten oder Superlative wie „die grandioseste Platte“ benutzten.

 

Uwe Kopfs Brief an die „Tempo“-Autoren macht traurig. Zum einen, weil all die vernünftigen Regeln, die Kopf vor einem Vierteljahrhundert aufstellte, auch im Jahr 2016 noch von Film- und Musikkritikern gerne gekonnt ignoriert werden. Zum anderen, weil dieser grandiose Sprachpedant zwar als Journalist und Kolumnist für zahllose Zeitungen und Zeitschriften Tag für Tag wunderbar pointierte Texte geschrieben hat, aber viel zu lange gewartet hat, bis er sich an einen Roman gewagt hat. So lange, dass er das Erscheinen des Buchs und die Lobeshymnen gar nicht mehr erlebt. Uwe Kopf starb im Januar, nachdem er gerade sein Manuskript fertigstellt hatte, in seiner Heimatstadt Hamburg an einer kurz zuvor diagnostizierten Krebserkrankung. Er wurde sechzig Jahre alt.

„Bruce Springsteen verhält sich zu Amerika wie Joschka Fischer zur Klappstulle“

Sein Roman „Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe“ ist sein bitterschönes Vermächtnis. Es ist die Chronik eines angekündigten Todes. Unfassbar traurig und lustig zugleich verarbeitet Kopf Leben und Tod seines eigenen Bruders, erzählt von Tom, den man leichtfertig als gescheiterte Existenz bezeichnen könnte. Tom arbeitet mal als Briefsortierer, mal als Korrektor einer Fernsehzeitschrift. Und seine Karriere als Musikkritiker kommt nicht über den ersten Satz hinaus: Als er für eine Zeitung Bruce Springsteens Album „The Ghost Of Tom Joad“ besprechen soll, lautet sein Einstieg „Bruce Springsteen verhält sich zu Amerika wie Joschka Fischer zur Klappstulle.“ Ein zweiter Satz fällt ihm nicht ein, und so sortiert er wieder Briefe.

Nicht nur diese zweite Satz wird Tom überfordern, sondern auch das Leben an sich. Zwölf Jahre war er mit Tanja zusammen, die sich vor Sex ekelte, später mit Jenny ergeht es ihm auch nicht viel besser, Gila betrügt ihn dann mit seinem Bruder, und als er Eva kennenlernt, ist er vom Leben schon so angeekelt, dass das nicht wirklich gut ausgehen kann. Am Ende wird Tom Rory Gallaghers „Crest Of A Wave“ hören, eine Paketschnur an der Türklinke befestigen und sich im letzten Moment seines Lebens fragen, „ob sein Bruder wirklich den Schneid und das Herz haben wird, ‚Das Lied der Schlümpfe‘ während der Trauerfeier spielen zu lassen“.

Uwe Kopf hat in dieses Buch jedenfalls viel Schneid und Herz gepackt. Er folgt Tom in Hamburg auf Minigolfplätze und in Kneipen, schaut mit ihm jede Menge Horrorfilme, inszeniert Augenblicke des Glücks auf Parkbänken und Momente des Scheiterns in der Herbertstraße. Kopf erzählt in genau jener präzisen, entrümpelten Sprache, die er damals bei „Tempo“ gefordert hat, von einem still Verzweifelnden, variiert dabei immer wieder raffiniert die Erzählperspektive, wechselt von Innen- zur Außensicht, baut Dialogpassen ein und verwandelt das Buch gegen Ende sogar fast in einen Briefroman.

„Öfter als 200-mal täglich denke ich an den Tod“

Nebenbei trägt Uwe Kopf mit diesem späten Debüt die inzwischen ein bisschen zur Beliebigkeit neigende Gatttung des Popromans zu Grabe. Wer möchte, kann sich aber an Nick Hornbys „High Fidelity“, Benjamin von Stuckrad-Barres „Soloalbum“ oder Sven Regeners „Herr Lehmann“ erinnert fühlen. Auch in „Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe“ wird ein Leben entlang von Popsongs erzählt. Allerdings erweitert Kopf den Popbegriff: Im Soundtrack von Toms Leben trifft Rudolf Schocks „Dein ist mein ganzes Herz“ auf „Midnight Rambler“ von den Rolling Stones, „I Wanna Know What Love Is“ von Foreigner auf „Rivers Of Babylon“ von Boney M. und „There’s A Light That Never Goes Out“ von The Smiths auf „Das Lied der Schlümpfe“.

Uwe Kopfs Version von Popliteratur ist allerdings nicht nur vielstimmiger als die seiner Vorgänger, sondern auch drastischer, konsequenter. Bei ihm geht es nicht um mit popkulturellen Fundstücken dekorierte Befindlichkeitsprosa, sondern um in den Popdiskurs eingebettete existenzielle Fragen. „Immer wieder schreiben die Zeitungen, dass der Durchschnittsmann ungefähr 200-mal täglich an Sex denkt“, sagt Tom, „das mag dann auch auf mich zutreffen, denn ich bin ja wohl der Durchschnitt in Person, aber öfter als 200-mal täglich denke ich an den Tod.“

Superlative fand Uwe Kopf unerträglich. Doch „Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe“ ist der ulkigste, traurigste, herzzerreißendste deutsche Poproman seit vielen Jahren. Den Satz muss er jetzt leider aushalten.

Uwe Kopf: Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe. Roman. Hoffmann und Campe, Hamburg. 320 Seiten. 22 Euro.