Wanderpredigten in der Innenstadt und gemeinsame Entschleunigung bei Spaziergang: Eindrücke vom Vagabundenkongress am Theater Rampe.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Ärzte und Psychologen, Ökonomen und Gastronomen haben sich schon die Köpfe darüber zerbrochen, wie sich das Leben entschleunigen lässt und man Tempo und Hetze aus dem Alltag verbannt. Dabei geht es ganz einfach: Man muss es nur Esmeralda gleich tun. Esmeralda lässt sich Zeit im Leben. Sie läuft sehr langsam und bedächtig. Wenn Esmeralda den Stuttgarter Marienplatz überquert, kann das schon mal eine dreiviertel Stunde in Anspruch nehmen. Denn Esmeralda hat es nicht eilig. Sie ist eine Schildkröte.

 

Es war ein ungewöhnliches Experiment, zu dem die Rampe geladen hat. Bis zum Wochenende veranstaltet das Theater noch seinen Vagabundenkongress und hat unter anderem die Stuttgarter Künstlerin Tina Saum engagiert, die ein „Labor für Gedanken und Gänge“ betreibt. Saum hat sich für ihren Beitrag von einer Stuttgarter Auffangstation für Schildkröten Esmeralda ausgeliehen, damit wir Menschen von ihr lernen können, das Tempo zu drosseln. Für Saum ist es eine Art Recherche, um herauszubekommen, wie eine Welt aussehen könnte, in der es nicht nur Oasen der Ruhe gibt, sondern alles entschleunigt wäre.

Die kleine Gruppe, die sich auf dem Marienplatz getroffen hat, soll Esmeralda folgen und sich auf einen Weg begeben, ohne das Ziel zu kennen. Esmeralda ist eine afrikanische Panzerschildkröte und elf Jahre alt. Kaum wird sie aus Transportbox gehoben, marschiert sie auch schon los, wenn auch erst mal nur im Kreis.

Experiment zur Entschleunigung

Ein schönes Experiment, das immer mehr Neugierige anzieht, Kinder wie Erwachsene, die sich weniger für Saums Entschleunigungsexperiment interessieren als für das drollige Tierchen, das so zielsicher die Füße der großen Menschen umrundet. Aber der Vagabundenkongress ist ohnehin keine Veranstaltung, bei der künstlerische Aktivitäten präsentiert und konsumiert werden, sondern es ist eher ein Labor, bei dem Projekte initiiert werden und es letztlich keine Rolle spielt, was bei ihnen herauskommt.

Leicht ist es nicht, sich im Programm des Kongresses zurechtzufinden, weil auch die schnöde Information dem Konzept angepasst wurde. Vom Treffpunkt in der „Herberge“ ist da die Rede – und man muss wissen, dass damit die Rampe gemeint ist. Es gibt einen Herbergssalon, und ein Parkdeck im Züblin-Parkhaus ist zum Veranstaltungsort umfunktioniert worden. Viele Aktionen finden aber im Stadtraum statt, häufig auch spontan, sodass man keine Chance hat, etwa den Künstler Justin Time anzutreffen, der aufblasbare Sessel in der City aufschlägt, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Er zieht spontan los – gezielt aufsuchen kann man ihn nicht.

Gregoria Gog alias Tanja Krone hat dagegen offiziell zur Wanderpredigt geladen. Die Berliner Regisseurin hat sich den Namen von Gregor Gog geliehen, der 1927 in Stuttgart den ersten Vagabundenkongress initiierte, das größte Treffen von Wohnsitzlosen und Künstlern, die die Heimatlosigkeit zum wahren Leben jenseits bürgerlicher Zwänge erklärten. Zur Wanderpredigt sind einige Eltern mit ihren Kindern gekommen. Mit Leiterwagen zieht das kleine Grüppchen von der Rampe in Richtung Marienkirche. An den Ampeln winkt Tanja Krone, damit alle unversehrt rüber kommen. „I feel responsible for you“, sagt sie.

Gehen und Schauen

Die Wanderpredigten sind der Versuch, die Menschen wieder zum Gehen und Schauen zu motivieren. Manche dieser Termine sollen vier Stunden gedauert haben und waren mit langen Erläuterungen angereichert. Tanja Krone erklärt dagegen nur, dass in der Tübinger Straße, wo gerade die Bagger zugange sind, bis vor kurzem noch ein angesagter Klub stand. An der Marienkirche findet eine Predigt statt. Alina Popa und Florin Flueras, zwei rumänische Künstler, stehen auf einem kleinen Balkon über dem Kirchenportal und rufen dem Volk Sätze zu wie „The sky is beautiful“. Es scheint um das Paradies auf Erden zu gegen und den Teufel. Man solle erwachen, fordern die Künstler auf englisch auf, und man solle sich Hände, Gesicht und die Knochen waschen.

„Völliger Blödsinn“, sagt ein Mann und hält sich schwankend an seiner Bierflasche fest. So kann man es durchaus sehen, die Performance lässt einigermaßen ratlos zurück und zieht sich. Damit es den Zuhörern, die es sich auf dem Boden bequem gemacht haben, nicht fad wird, verteilt Tanja Krone Äpfel und Pflaumen, während die Kinder auf den Spielgeräten herumturnen.

Martina Grohmann, eine der beiden Intendantinnen der Rampe, ist zufrieden mit dem Vagabundenkongress. Es gebe keine Hochglanzveranstaltungen, meint sie, vieles entwickle sich vielmehr spontan. Es kämen nicht nur die geladenen Künstler zu den Aktionen, sondern auch andere Interessierte. Die klassischen Theaterbesucher sind das freilich nicht, eher Attac-Anhänger, Künstler, Aktivisten.

Und Esmeralda? Sie ist inzwischen bei der Eisdiele angekommen und wirkt etwas müde. Für die Besucher aber hat sich die Therapie gelohnt, alle sind völlig entspannt und plaudern zwar nicht über Entschleunigung, dafür aber durchaus angeregt über Winterschlaf und Fortpflanzung.