Die Maqsudis haben in Vaihingen ein Häuschen gebaut – und eine neue Heimat gefunden.

Klima & Nachhaltigkeit: Judith A. Sägesser (ana)

Stuttgart-Vaihingen - Die Erinnerungen an die erste Heimat kleben an der Wand hinter dem langen Esstisch. Felder, das Meer, Straßenszenen – „das ist von dem Land übrig geblieben, ein paar Fotos“, sagt Farid Maqsudi. Seine Frau Najiba und er haben die Bilder aus Afghanistan in der Stube aufgehängt, damit sich ihre vier Kinder annähernd vorstellen können, woher die Eltern stammen. Ein bisschen haben die Maqsudis es natürlich auch für sich selbst getan. Schließlich gab es eine Zeit, in der Kabul ihr Zuhause war.

 

Diese Zeit dürfte dem Ehepaar so vorkommen, als wäre sie aus einem anderen Leben. Und gewissermaßen ist sie das auch. Wer die Maqsudis heute kennenlernt, hat Schwaben vor sich. Schwaben mit eigenem Reihenhäuschen in Vaihingen, Schwaben, die gern Spätzle schaben und Kartoffelsalat zubereiten, die meistens Ja sagen, wenn im Quartier helfende Hände gefragt ist.

„Krieg zerstört vieles“

Die Maqsudis könnten genauso gut Müller oder Häberle heißen. Der Vater Farid ist Manager in der Branche für Lebensmitteltechnologie, seine Frau Najiba arbeitet freiberuflich als Dolmetscherin, die zwei jüngsten Kinder gehen ins Hegel-Gymnasium, Chaled, der Älteste, studiert Luft- und Raumfahrttechnik, und Fahim, der Zweitgeborene, lebt unter der Woche in Donaueschingen, weil er sich dort zum Forstwirt ausbilden lässt.

An jenem Abend ist fast die ganze Familie versammelt. Nur Fahim, der angehende Forstwirt, fehlt. Im Hintergrund dudelt Popmusik, es gibt Ingwertee – und eine Reise von der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder retour. Für die Kinder sind die Geschichten aus Kabul eben dies: Geschichten. Susan, 13, rührt in ihrem Tee, während ihr Vater erzählt. Ihr Bruder, der 15-jährige Monir, hört ruhig zu. Die beiden waren noch nie in der ersten Heimat ihrer Eltern, die älteren Jungs schon. „Ich rate niemandem, dorthin zu gehen“, sagt der 24-jährige Chaled. Es klingt enttäuscht. Das Land am Hindukusch sei kaputt. Weil die Menschen im Kopf kaputt seien.

„Krieg zerstört vieles“, sagt Najiba Maqsudi. Die heute 51-Jährige ist Mitte der 1980er Jahre von Kabul über Delhi nach Stuttgart geflohen; sie hat sich als Analphabetin ausgegeben und andere Tricks angewandt, die Machthaber ließen Akademiker nicht ohne Weiteres gehen. Sie hatte Glück, das sie aus einer gut situierten Familie kam, die Brüder und der Vater haben ihr die nötigen Papiere gekauft, und Najiba Maqsudi ist mit dem Flugzeug nach Indien geflogen – nach dreijähriger Vorbereitungszeit. „Ich kann sagen: ich bin ein Edelflüchtling“, sagt sie. „Ich wollte auf keinen Fall auf dem Landweg flüchten, ich bin so ängstlich.“

Die Kinder gehen in den Sportverein

Seit damals war Najiba Maqsudi nie mehr in Afghanistan. „Ich würde die ganze Zeit weinen“, sagt sie. Von ihrem Mann Farid, der mehrmals in die alte Heimat gereist ist, hat sie gehört, dass in Kabul nichts mehr ist, wie es einmal war. Die Stadt, in der es damals für Frauen völlig normal gewesen ist, im Bikini baden zu gehen, zu studieren, dieses Kabul gibt es nicht mehr, sagt Farid Maqsudi. Er hat sein Viertel kaum wiedererkannt. Wer konnte, ist ins Ausland geflohen, sagt er. Gekommen sind stattdessen viele Leute aus den Dörfern, die sich vom Umzug in die Hauptstadt ein besseres Leben versprochen haben.

Farid und Najiba Maqsudi ist klar, dass Afghanistan für sie Vergangenheit ist. Als Farid Maqsudi Mitte der 1970er Jahre, gerade volljährig, aus Kabul weg ist, wollte er ein paar Jahre in Deutschland studieren. „Meine Zielvorstellung war, nach vielleicht fünf Jahren wieder zurückzukehren“, erzählt der heute 57-Jährige. „Aber das Leben findet seinen eigenen Weg.“ Die politische Lage in Afghanistan durchkreuzte seine Pläne. Erst kamen die Russen, dann die Taliban. Die Familie und er hielten es für klüger, dass er bleibt, wo er ist: in Vaihingen.

So kam es, dass die Maqsudis eine zweite Heimat fanden. Die Kinder gehen in den Sportverein, ein Sohn ist bei der SPD, die Familie spricht Deutsch. „Heimat ist, wo man sich wohlfühlt“, sagt Farid Maqsudi. Seine Frau schaut ihn liebevoll an: „Er ist ein Schwabe.“ Die Bilder an der Wand hinter dem langen Esstisch sind einsame Relikte aus einem anderen Leben.