Harter Tobak zum Auftakt des Lesefests: Ines Geipel spricht über ihr aktuelles Buch „Der Amok-Komplex“.

Stuttgart-Vaihingen - Erfurt, Emsdetten und Winnenden; Drei Orte, die auch für schreckliche Taten Einzelner stehen. Gibt es ein Muster hinter den Amokläufen? Die Schriftstellerin Ines Geipel hat sich auf Spurensuche begeben, zehn Jahre nach Erfurt und drei Jahre nach Winnenden.

 

An diesem Abend ist sie zu Gast im Kinderhaus Büsnau. Es ist der Auftakt des Lesefestes, welche die Einrichtung mit ihren Partnern und dem Bürgerverein veranstaltet. Der Stühle reichen nicht aus. In den nächsten drei Wochen werden 2200 Schüler im Literaturtempel erwartet, Zwölf namhafte Autoren lesen.

Ines Geipel Lebenslauf bietet allemal Stoff für ein gutes Buch

„Das ist ein heftiger Einstieg in eine Lesewoche“, sagt Jonas Helbig. Der Vaihinger Pfarrer sitzt neben Ines Geipel und der Moderatorin Marion Kadura. Er war am Tag des Amoklaufs in Winnenden und betreute dort eine Schulklasse. Seine Erzählungen gehen unter die Haut. Etwa wenn er berichtet, wie sich die Tür der Turnhalle, in der Schüler und Eltern warteten, öffnet und ein Junge auf Krücken hereinhumpelt. Querschläger aus der Waffe des Amokschützen trafen seine Füße. „Er wollte unbedingt bei seiner Klasse sein“, erzählt der Notfallseelsorger. Zwei seiner Mitschüler kommen an diesem Tag nicht. Sie sind der Wahnsinnstat zum Opfer gefallen.

Wenn Jonas Helbig spricht, hört Ines Geipel aufmerksam zu. Deren eigener Lebenslauf bietet allemal Stoff für ein gutes Buch. Aufgewachsen in Dresden, ist sie in jungen Jahren Mitglied der DDR-Leichtathletik-Nationalmannschaft. Mit drei anderen Läuferinnen stellt sie den heute noch gültigen Vereins-Weltrekord über Viermal-100-Meter auf. Vor dem Mauerfall flieht die heute 52-Jährige nach Darmstadt, wo sie Philosophie und Soziologie studiert. Geipel war im Jahr 2000 Nebenklägerin im Hauptprozess um das DDR-Zwangsdoping, sie wurde als Doping-Opfer anerkannt und bestand darauf, dass ihr Name von der Rekordliste gestrichen wird. Heute steht dort ein Sternchen. Schriftstellerisch hat sich die Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst in Berlin zuerst mit vergessenen DDR-Autorinnen und dem Thema Doping auseinandergesetzt. 2004 erschien „Für heute reicht’s. Amok in Erfurt“. Als die Tat am 26. April 2002 geschah, wollte sie eigentlich mit Studenten über Hexameter sprechen. „Darunter auch welche, die am Gutenberg-Gymnasium ihr Abitur gemacht hatten“, erklärte Geipel den Zuhörern am Samstagabend. An einen normalen Unterricht war an diesem Tag nicht zu denken. Das Thema ließ die Publizistin nicht mehr los, auch weil ihr die richtige Aufarbeitung der „menschgemachten Katastrophe“ fehlt. Die Autorin spricht von einem „Mutmaßungsfeld“. „Ich hatte das Gefühl: Wir richten uns ein und trainieren uns dicke Puffer an.“ Geipel will keineswegs die Morde legitimieren, sucht aber nach einem Muster in den Ereignissen. „Die Täter kamen aus der Mitte der Gesellschaft.“ Die Amokläufer seien an ihren Schulen Mobbing-Opfer gewesen. Sie hätten ihre Taten minutiös vorbereitet, diese mehrfach angekündigt und seien hochintelligent gewesen. „Verbunden allerdings mit mauen emotionalen Fähigkeiten“, ergänzt Geipel. Sie verweist darauf, dass die jungen Täter problemlos an scharfe Waffen herangekommen sind. Im Zuge ihrer Recherchen hat die Schriftstellerin herausgefunden, dass es mindestens zehn Millionen Waffen in deutschen Privathaushalten gibt. Über die Zahl kann sie nur den Kopf schütteln: „Wir sind doch nicht im Krieg.“

„Wir brauchen mehr als eine gut funktionierende Gesellschaft“

Geipel spricht vom abstrakten Vater Internet, der den Taten die größtmögliche Aufmerksamkeit zuteil werden lässt. Sie sieht eine Radikalisierung: „Die Täter erfahren ein Maximum an Resonanz und bringen sich nicht mehr um.“ Dies zeige etwa das Beispiel des Massenmörders Anders Breivik, dem Geipel den Epilog ihres Buches widmet. Zugleich sagt sie aber auch: „Jede Amoktat ist ein absoluter Extremfall.“

Helbig bietet die andere Sicht, die aus dem „Epizentrum des Erdbebens“. Er erzählt wie er 60 Jungfeuerwehrleute in Winnenden betreute, sie haben nicht mehr in den Alltag zurückgefunden. Der Pfarrer erfuhr von ihnen auch, dass sie von Journalisten 50 Euro bekamen, wenn sie sich vor eine Kerze hinknieten und dabei ablichten ließen. Seine Lehren: „Wir brauchen mehr als eine gut funktionierende Gesellschaft.“ Er wolle den Leistungsgedanken nicht über Bord werfen: „Er muss aber mit einer Anerkennungskultur korrespondieren.“

Schon zu Beginn hatte die Moderatorin Marion Kadura, die beim städtischen Kulturamt arbeitet, keine „durchgehende Lesung“ angekündigt. „Bringen Sie den Mut auf, Fragen zu stellen“, sagte die Fachreferentin für Literatur. Erst ganz am Ende ist dieser da, etwa beim Grünen-Landtagsabgeordneten Nikolaus Tschenk oder Karin Maag, der CDU-Bundestagsabgeordneten und Schirmherrin des Lesefestes. Auch andere Hände schnellten ihn die Höhe. Draußen wartete freilich schon das angerichtete Büfett. Für Gastgeber Frank Otto Huber kein Problem: „Wir haben noch genug Zeit, alle Fragen zu beantworten. Ich kann das Kinderhaus bis nachts um zwei auflassen.“ Im Foyer wurde weiterdiskutiert – über ein Thema, das keinen kalt lässt.