Vor 200 Jahren hat ein Bauer die berühmteste Frauenstatue der Antike gefunden: die Venus von Milo. Aber so heißt sie eigentlich gar nicht. Das prominente Kunstwerk ist ein großes Rätsel geblieben.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Georgios Kentrotas ist eine weithin unbekannte und dennoch bedeutende Nebenfigur der Kunstgeschichte. Am 8. April 1820, just heute vor 200 Jahren, war der Bauer auf der Kykladeninsel Melos, seiner Heimat, unterwegs, um Baumaterial zu suchen. Trümmer gab es da zuhauf. Er durchstöberte die Ruine eines antiken Theaters und fand dabei überaus wohlgeformte Hinterlassenschaften: eine steinerne Frau – von der sich später herausstellen sollte, dass sie eine Göttin darstellt.

 

Das Geheimnis ihres versonnenen Blicks

Der Bauer Kentrotas verscherbelte das als Mauerstein untaugliche Fundstück an französische Schatzgräber. So kam es in den Besitz von Frankreichs Botschafter in Konstantinopel. Der übereignete es König Louis XVIII. Dieser wiederum schenkte die Marmordame dem Louvre – wo sie sie heute noch zu bewundern ist (sobald das Museum wieder geöffnet hat). Viele Millionen Menschen sind ihretwegen schon dorthin gepilgert. Es handelt sich um das berühmteste Frauenbild der Antike – ein Schönheitsideal. Was die Betrachter so in den Bann schlägt, ist schwer zu beschreiben. Der Archäologe Bernard Andreae führt die Faszination der Figur zurück auf „das Geheimnis des Bewegungsmotivs ihres nur im Torso erhaltenen Leibes und ihren versonnenen Blick“. Die Attraktion liegt womöglich auch daran, dass die meisten glauben, es handle sich um ein Abbild der Liebesgöttin Venus – wegen des Fundorts wird die Statue meist Venus von Milo genannt, korrekterweise heißt sie: Aphrodite von Melos.

Ansonsten ist sie ein Rätsel geblieben. Man weiß nicht, wer sie 100 Jahre vor der Zeitenwende erschaffen hat – der spätantike Künstler Praxiteles war es, anders als lange vermutet, offenbar nicht. Man weiß nicht, woher der Marmor stammt: von den Kykladen selbst oder doch aus Kleinasien? Man weiß nicht, wie ihr Gestus zu deuten ist, was ihre verlorenen Arme und Hände hielten: den Apfel des Paris als Preis höchster Schönheit oder den Schild des Ares, der Aphrodites Liebhaber war? Man weiß noch nicht einmal, ob es sich wirklich um Aphrodite handelt. Vielleicht eher um die Jagdgöttin Artemis oder um die Nymphe Amphitrite, die lokal verehrt wurde? Das Geheimnisvolle ist wohl das Geheimnis ihres Zaubers.