Gibt es bei der Polizei rassistische Grundtendenzen? Diese Frage wurde bei einem Hearing kommunaler Migrantenvertreter in Stuttgart aufgeworfen. Betroffene sehen das sehr wohl so und wünschen sich eine neutrale Beschwerdestelle.

Stuttgart - Der schwarze Jugendliche Stephen Lawrence ist 1993 an einer Bushaltestelle in London erstochen worden – aus rassistischen Motiven, wie sich später herausstellte. Aber es waren Stephens Eltern, die sich ihr Recht gegen einen müden Polizeiapparat erkämpfen mussten und auch die Verurteilung von zwei Tätern durchsetzten. Der Fall löste eine Debatte über institutionellen Rassismus in der britischen Polizei aus, bewirkte einen Untersuchungsbericht und zehn Jahre später eine Justizreform. Gibt es Parallelen zu Deutschland? Müssen wir „Strategien gegen institutionellen Rassismus“ suchen, wie der Titel eines Hearings des Landesverbandes der kommunalen Migrantenvertretungen am Donnerstag im Stuttgarter Rathaus nahelegte?

 

Eindeutig ja, sagen Vertreter von Migrantenverbänden. Sie hatten in Seda Basay, die eine Nebenklägerin im NSU-Prozess vertritt, eine Anwältin, die die Ermittlungen der Polizei in der Mordserie gegen acht türkische und einen griechischen Kleinunternehmer als „rassistisch geprägt“ darstellte. Der Rassismus sei in „Routine und Regeln eingewoben“, sagte Basay und belegte dies mit Aktenhinweisen. Es sei unter dem Stichwort „Dönermorde“ jahrelang gegen die Opferfamilien ermittelt worden: Gesucht wurde nach Drogendelikten, Geldwäsche, Schutzgelderpressung. Klischees leiteten die Ermittler. Andere Hinweise wie das Auftreten von zwei Männern am Tatort in Radlerhosen (Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt) wurden ausgeblendet.

„Negerfahrzeug“ in den Akten

Dass ein verdächtiges Auto mit einem farbigen Paar als „Negerfahrzeug“ in den Akten auftaucht, bemerkte Basay am Rande. Nach Jahren noch ging die Polizei davon aus, dass alle Opfer „irgendwie mit Drogen zu tun haben“ – ohne einen Anhaltspunkt zu haben. Erst nach dem achten Mord wurde eine „türkenfeindliche Gesinnung“ in die operative Fallanalyse aufgenommen. Um die These gleich abzumildern mit dem Hinweis, „dass Tötungen in unserem Kulturraum“ mit einem hohen Tabu belegt seien. Nur bei uns? Basay forderte eine Entschuldigung der Behörden für die falsche Verdächtigung der Opfer und plädierte für die Einrichtung von Beschwerde- oder Ombudsstellen in Streitfällen mit der Polizei.

Ähnlich sahen dies auch Ruhan Karakul, Justiziarin des Zentralrats der Sinti und Roma, sowie Tahir Della von der Initiative Schwarze Deutsche. Karakul wies daraufhin, dass nach der Ermordung der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn wegen einer Ermittlungspanne Landfahrer verdächtigt wurden. In den Akten fanden sich Vermerke wie „Zigeunermilieu“ oder der Hinweis eines serbischen Psychologen nach der Arbeit mit einem Lügendetektor, dass „die Lüge Bestandteil der Zivilisation“ der Sinti und Roma sei. Auch Karakul wünscht sich eine Entschuldigung.

Schwarze bevorzugt kontrolliert

Auf das „Racial Profiling“, die Personensuche aufgrund ethnischer Merkmale, wies Tahir Della hin: Auch wenn die Bundespolizei es bestreite, es komme vor, dass Afrikaner wegen ihrer Hautfarbe in Zügen in Grenzgebieten kontrolliert würden. Der Hamburger Soziologe, Vassilis Tsianos, hat für eine Studie junge Migranten zu ihren Erfahrungen mit der Polizei befragt und brachte Belege dafür, wie sie „Störungen“ durch die Polizei erleben. Sie hielten sich – aus Mangel an Geld für kommerzielle Freizeitangebote – an öffentlichen Orten auf und würden von der Polizei oft auf unfreundliche Weise „mit Tätergedanken konfrontiert“. Sie würden weggescheucht und bei Kontrollen herausgepickt. Ein Sakko-Träger bleibe unbehelligt, ein Kapuzenpulli-Träger nicht, sagen die Jugendlichen. Auch das eine Art von „Racial Profiling“?

Nach all den Vorwürfen war es an der Zeit, die Gegenseite zu hören: Thomas Berger vom baden-württembergischen Innenministerium sagte, dass man „aus der Retrospektive“ aus den NSU-Morden gelernt habe, man habe die falschen Tathypothesen gehabt. Aber Tathypothesen werde die Polizei immer brauchen. Energisch widersprach Askin Bingöl, Kriminalrat und Referent im Innenministerium sowie selbst türkischstämmig, der Kritik an der Polizei: „Es gibt sicher individuelles Fehlverhalten, aber das System der Polizei ist nicht rassistisch.“ Im Gegenteil, eine Studie zeige, dass bei Türken die Institution der Polizei geschätzt werde. Bingöl sagte auch, dass die Polizei Erfahrungswissen einsetzen müsse und nannte ein Beispiel: Man wisse vom Menschenhandel mit Prostituierten aus Rumänien: „Wenn ich ein rumänisches Fahrzeug mit zwei Frauen drin habe – wieso soll ich das nicht rausziehen?“

Neutrale Beschwerdestelle gewünscht

Im Raum blieb der Wunsch nach einer neutralen Beschwerdestelle: Sie sei, so der Ex-Grünen-Bundestagsabgeordnete Mehmet Kilic, auch gut für die Polizei. Bisher müssten Beschwerden über die Polizei dort selbst abgegeben werden, die aufnehmenden Kollegen würden als „Nestbeschmutzer“ gelten.

Noch etwas überraschte: Der als Gastredner auftretende Chester Morrisson, ein schwarzer Ex-Jugendamtsleiter aus Liverpool, beschrieb als eine Neuerung nach dem Fall Lawrence, dass Rassismus im Königreich neu definiert wurde: Ein rassistischer Vorgang sei dann gegeben, wenn er als solcher vom Opfer selbst oder einem Dritten, etwa einem Augenzeugen, so empfunden werde. Das, so Ministeriumsvertreter Berger, sei für ihn neu und akzeptabel.