„Verbrennungen“ im Schauspiel Stuttgart Zeit heilt keine Wunden

Nawal, gespielt von Evgenia Dodina (re.), und ihre Freundin Sawda (Salwa Nakkara) erleben in „Verbrennungen“ im Schauspielhaus schreckliche Szenen. Foto: T+T Fotografie / Toni Suter // Schauspiel Stuttgart

Burkhard C. Kosminski inszeniert Wajdi Mouawads Tragödie „Verbrennungen“ im Schauspielhaus in Stuttgart. Warum der dreistündige Abend trotz einiger Schwächen sehenswert ist.

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Stuttgart - Hochzeiten und Beerdigungen sind in der Kunst wie im Leben oft Ereignisse, die Geheimnisse an den Tag bringen. Weil da Leute auftauchen, von denen man nichts wusste. In Wajdi Mouawads am Samstag im Schauspielhaus Stuttgart aufgeführten Stück „Verbrennungen“ erfahren die Zwillinge Johanna und Simon nach dem Tod ihrer Mutter Nawal, dass der totgeglaubte Vater lebt und dass ein weiterer Bruder existiert. Und dass sie die Verwandten suchen und ihnen je einen Brief übergeben sollen.

 

Elias Krischke, der als Simon stets hochtourig wütend agiert, verflucht die Mutter erst einmal. Sie habe nie ihre Liebe gezeigt und dazu die letzten fünf Jahre ihres Lebens nur geschwiegen. Paula Skorupa spielt Johanna, eine Mathematikerin, als eine rationale junge Frau.

Die Kinder werden den Auftrag annehmen. Sie hören auf ihrer Suche Geschichten von größter Liebe und von heftigstem Hass, von Inzest, Vergewaltigung, Folter. Und wie schon in Mouawads Drama „Vögel“, das Burkhard C. Kosminski zu seinem Intendanzstart 2018 inszeniert hatte, lernen alle Beteiligten, dass sich Identitäten, sicher geglaubte Gewissheiten als brüchig erweisen. Und dass selbst die schrecklichste Wahrheit besser ist als das Schweigen.

Suche nach dem Kind

In Rückblenden spielt Evgenia Dodina die Mutter als ausgelassene Teenagerin, die von ihrer großen Liebe Wahab, dargestellt von Noah Baraa Meskina schwanger wird. Eine Liebe, die nicht sein darf. Sie muss das Kind weggeben, der junge Mann, ein Flüchtling, muss das Dorf verlassen. Mit ihrer Freundin Sawda (kraftvoll und energiesprühend: Salwa Nakkara) macht sie sich einige Jahre später auf, um das Kind zu finden, erlebt Mord, Totschlag, Krieg, Vertreibung.

Wajdi Mouawad, der 1968 im Libanon geboren wurde, sein Heimatland 1976 mit der Familie verließ und vor dem Bürgerkrieg erst nach Paris, dann nach Kanada flüchtete, widmet den Text zwei Frauen. „Die eine Araberin, die andere Jüdin, beide meine Blutsschwestern.“ Und doch hat man beim Lesen nicht das Gefühl, diese Geschichte einem genau zu datierenden Hier und Jetzt zuordnen zu müssen. Keine Länder, keine Glaubensrichtungen werden genannt. Man verliert sich in der mal poetisch elegischen, mal verzweifelt heiteren, kraftvollen Sprache. In einem Drama, das stets an jedem Kriegsort spielen könnte und das von einer unauflösbaren Tragik ist – wie man das aus antiken Tragödien wie „Ödipus“ kennt.

Opfer sind auch Täter

Regisseur Burkhard C. Kosminski verortet das Stück allerdings konkret. Er setzt die Zuschauer via Videoeinspielung von der Staatsgründung Israels, den darauffolgenden Kriegen in Kenntnis. Die (auch deutsche) Vergangenheit wirkt nach bis heute, diesen Nachweis aktueller Relevanz hätte es nicht gebraucht, um plausibel zu machen, warum das Werk 2022 auf eine Bühne gehört. Es geht ja nicht nur um aktuelle politische Konflikte, sondern darum, dass Menschen grundsätzlich alles sein können, Opfer und Täter, Liebende und Hassende.

Bühnenbildner Florian Etti hat für die dreistündige Erkenntnissuche eine Plane über den Boden gelegt, die mal ein Bürofußboden ist, mal eine Wüstenlandschaft. Sand quillt aus der aufgerissenen Plane. Die Erde, sie wirkt wie eine aufgeschürfte Wunde. Hier spielt das Ensemble auf Deutsch, Hebräisch, Arabisch, Englisch (mit deutschen Untertiteln) mit einer großen emotionalen Intensität, hier sorgt der Regisseur Videos mit Close-ups für eindrucksvolle Momente.

Beeindruckendes Spiel von Evgenia Dodina

Wenn etwa Martin Bruchmann einen derwischhaft tanzenden und singenden psychotischen Heckenschützen spielt, der in seinem Irrsinn eben nicht faszinierend, sondern abstoßend wirkt. Und wenn Evgenia Dodinas Nawal bei einem Prozess aussagt und sie mit fester Stimme, Tränen in den Augen ihrem einstigen Peiniger und Vergewaltiger prophezeien wird, dass eines Tages ihre – und damit auch seine – Kinder vor ihm stehen werden.

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„Die Zeit ist wie ein geköpftes Huhn, die Zeit rennt wie eine Verrückte herum, und aus ihrem geköpften Hals strömt Blut und ertränkt uns.“ Das sagt Nawal zu ihrer Freundin. Vielleicht aber heilt die Zeit doch alle Wunden, sagt Burkhard C. Kosminski. Er will nicht nur kathartische Momente, sondern gute Ausblicke bieten. Wajdi Mouawad, der über die Entstehung des 2003 verfassten Werkes schreibt: „Bevor auch nur eine Zeile geschrieben war, haben wir von Trost gesprochen. Die Bühne als Ort des gnadenlosen Trostes.“ Der Regisseur meint, noch ein bisschen mehr Trost und etwas Kitsch könnten nach all dem Gemetzel und Irrsinn nicht schaden.

Er lässt den Testamentsvollstrecker, den Matthias Leja als sympathischen integren Daddy-Typen spielt, Tisch und Stühle herbeischaffen. Gemeinsam mit den Zwillingskindern sitzt er da, man zelebriert eine Art Wahlverwandtschaft, trinkt Wein, bricht zusammen das Brot. Die Kunst wäre es gewesen, das Dilemma, das das Leben darstellt, auszuhalten. Und sich im besten Fall an dem anspruchsvollen Satz zu orientieren, den die tragische Heldin ausspricht: „Jetzt, da wir zusammen sind, geht es besser“.

Info

Wajdi Mouawad
Dem 1968 geborenen Dramatiker, Schauspieler und Regisseur wurde 2021 in Stuttgart der neu geschaffene, mit 75 000 Euro dotierte Europäische Dramatikerinnen- und Dramatikerpreis verliehen.

Nächste Premieren des Staatsschauspiel Stuttgart
 „Nathanael“ nach E. T. A. Hoffmann am 8. Februar im Nord. Uraufführung von Gianina Cărbunarius „Waste“ am 12. März im Kammertheater.

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