Der Kanzler setzt sich zur Eröffnung des Verdi-Bundeskongresses für eine weitere deutliche Mindestlohnerhöhung ein. Protestierenden Delegierten hält er das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung entgegen.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Die Auftritte von Kanzler oder Kanzlerin bei Verdi-Gewerkschaftstagen haben Seltenheitswert und meist Brisanz: Im Jahr 2000 hatte Gerhard Schröder der Vorgängerorganisation ÖTV sein „Basta“ zur Rentenreform entgegengeschleudert und sich quasi für alle Zeiten zur „persona non grata“ gemacht. 2015 nannte der damalige Vorsitzende Frank Bsirske den Besuch der Christdemokratin Angela Merkel wiederum ein „berührendes Signal der Zuwendung“. Und der Genosse Olaf Scholz? Gibt sich zum Auftakt des Bundeskongresses in Berlin eher geschäftsmäßig. In einer kaum 15-minütigen Rede sucht der Sozialdemokrat den Schulterschluss mit Verdi.

 

„Sozialstaat ausbauen – nicht zurückfahren“

So stellt sich Scholz all jenen im Lager der Wirtschaft, aber auch – unausgesprochen – beim Koalitionspartner FDP entgegen, „die in schwierigen Zeiten sagen, dass der Sozialstaat zurückgefahren werden muss“ – denn „das Gegenteil ist richtig, das Gegenteil ist der Fall“. Auch zeigt er „als Gewerkschafter“ Verständnis für die Klagen über die seit Langem zurückgehende Tarifbindung und kündigt an, sich „als Bundeskanzler“ für die Stärkung der Tarifverträge einzusetzen, die ein „stabiles Fundament unseres Landes“ seien. Es brauche mehr und nicht weniger Tarifbindung.

Dazu hat Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) einen Gesetzentwurf erarbeitet. Damit sollen Unternehmen zum Einhalten von Tarifverträgen verpflichtet werden, wenn sie öffentliche Aufträge des Bundes erhalten, der mit seinen jährlichen Milliardenausgaben eine hohe Marktmacht hat. Womöglich wird Heil am Mittwoch weitere Details verraten.

Überraschend deutlich kritisiert der Kanzler die Entscheidung der Mindestlohnkommission, die gesetzliche Lohnuntergrenze im nächsten Schritt um lediglich 41 Cent auf 12,41 Euro anzuheben. Darüber sei er „unglücklich“ gewesen, sagt Scholz. „Man muss das kritisch bewerten.“ Sozialpartnerschaft bedeute, einvernehmlich zu entscheiden statt mit Mehrheiten. Tatsächlich hatten die Arbeitgebervertreter gemeinsam mit der unabhängigen Kommissionsvorsitzenden die Gewerkschaftsvertreter überstimmt. Seither dringt Verdi immer offener auf einen weiteren klaren Zuwachs des Mindestlohns auf 14 Euro und setzt dabei auch auf die entsprechende Richtlinie der EU.

Protest gegen die Unterstützung der Ukraine

Das grellste Licht auf die nüchterne Kanzler-Rede wirft letztlich der Krieg in der Ukraine. Ungefähr 30 Friedensaktivisten halten während des Auftritts Plakate hoch, um für einen Waffenstillstand und gegen verstärkte Rüstungsausgaben zu protestieren. Eine Flagge mit der Friedenstaube wird geschwenkt. Wie viel militärische und finanzielle Unterstützung verdient die Ukraine? Diese Frage zieht einen Graben durch die Gewerkschaft, wie sich am Donnerstag in einer intensiven Diskussion zeigen dürfte.

Die Haltung, dass es im gegenseitigen Töten eine „Stimme der Vernunft“ braucht und „dass dieser Krieg durch Verhandlungen beendet werden muss“, wie ein hochrangiger Funktionär sagt, wird von vielen geteilt. Zumal sich aus Gewerkschaftssicht immer deutlicher zeigt, dass „jeder Euro für Rüstung ein Euro weniger für Soziales bedeutet“, wie es ein Verdianer formuliert.

Kanzler weist „Zynismus“ der Friedensaktivisten zurück

„Schönen Dank für die vielen Transparente“, merkt der Kanzler mit sanfter Ironie an, weist aber die Forderung der Aktivisten klar zurück. Es sei eine „zynische Aussage, jemandem, auf dessen Territorium die Panzer eines anderen Landes rollen, zu sagen, er solle verhandeln, statt sich zu verteidigen“. Putin müsse Truppen zurückziehen – „das ist die Grundlage für Verhandlungen“. Womit sich Scholz dann doch den Beifall einer Mehrheit der Delegierten sichert.