Nachdem die Verdi-Basis den Schlichterspruch für den Sozial- und Erziehungsdienst klar abgelehnt hat, offenbart sich eine klare Fehleinschätzung durch die Gewerkschaftsführung – eine prekäre Lage für Verdi-Chef Bsirske, meint der StZ-Autor Matthias Schiermeyer.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Es ist schon viele Jahre her, dass sich eine Gewerkschaftsführung in der Einschätzung ihrer Mitglieder derart verkalkuliert hat. Obwohl sich die hauptamtlichen Funktionäre heutzutage des direkten Drahts zur Basis rühmen und obwohl eine Streikbewegung vom Engagement der Beschäftigten lebt, hat Verdi im kommunalen Sozial- und Erziehungsdienst gerade ein Debakel erlitten.

 

Offenkundig hatte die Gewerkschaft ihren Mitgliedern mit der Forderung nach zehnprozentigen Einkommenszuwächsen ein unrealistisches Ziel in Aussicht gestellt. Der Schlichterspruch löste die Erwartungen nicht ein. Wenn nun gut zwei von drei Mitgliedern, genau 69 Prozent, das Vermittlungsergebnis zerreißen, ist dies ein klares Indiz für die enorme Enttäuschung in den Belegschaften. Zugleich wurde die Kampfbereitschaft und Geschlossenheit der Erzieherinnen, Heilpädagogen und Sozialarbeiter falsch eingeschätzt. Die Mehrheit will die Auseinandersetzung in den Kitas und sozialen Einrichtungen fortführen – gegen den ursprünglichen Willen der Gewerkschaftsvordenker.

Komfortable Lage für die Arbeitgeber

Innerhalb der Gewerkschaft ist demzufolge ein Richtungsstreit entbrannt, wie er schon lange nicht mehr öffentlich geworden ist. In der Kontroverse der Hardliner gegen die Pragmatiker haben jetzt wieder die Befürworter der Konfrontation Oberwasser bekommen. Auf Schützenhilfe des kommunalen Arbeitgeberverbandes darf die Verdi-Führung aber nicht hoffen. Warum sollten die Arbeitgeber ausgerechnet in dieser für den Tarifgegner so prekären Lage weitere Zugeständnisse machen? Die Verantwortlichen in den Städten und Gemeinden hatten den Tarifkonflikt im Grunde längst abgehakt. Die Arbeitgeber können gelassen abwarten – unabhängig davon, dass einem Teil der für das soziale Gefüge so notwendigen Beschäftigten zu Unrecht ein Gehaltsplus verweigert wird.

Zwischen allen Stühlen sitzt Verdi-Chef Frank Bsirske. Eng abgestimmt mit dem Vorsitzenden hatte die Schlichtungskommission das Vermittlungsergebnis akzeptiert, bevor die Streikdelegiertenkonferenz auf die Bremse trat und die Mitgliederbefragung durchsetzte. So wird Bsirske von der Basis in eine Position gedrängt, die er nicht einnehmen will. Gut möglich, dass er bei dem Versuch scheitert, den Arbeitgebern Nachbesserungen abzuringen. Denn Frank Bsirske ist nicht Claus Weselsky – dem Chef der zweitgrößten Gewerkschaft darf es anders als dem Anführer der Lokführer nicht gleichgültig sein, wie die Menschen auf massive Arbeitsniederlegungen reagieren. Kurz vor der allseits erwarteten Wiederwahl auf dem Verdi-Bundeskongress im September steht sein Ruf eines klugen Tarifstrategen auf dem Spiel.

Nach Ende der Sommerferien muss nun eine ganz neue Streikdynamik entfaltet werden. Wie dies gelingen soll, ist unklar. Die von den Kitaschließungen zunehmend genervten Elternvertreter hatten ohnehin schon immer mehr Protestbriefe verschickt. Im September haben viele Mütter und Väter einen Großteil ihres Jahresurlaubs verbraucht und können neue ungeplante Auszeiten am Arbeitsplatz nicht gebrauchen. Der allzu verführerische Rückhalt in Gesellschaft und Politik für die an sich einleuchtende Aufwertungskampagne der Gewerkschaft droht zu zerbröseln.

Beamtenbund auf Solidaritätskurs

Pikanterweise werden auch die anderen beteiligten Organisationen in den Konflikt zurückgedrängt: Dass die Erziehungsgewerkschaft GEW noch Kampfeslust zeigt, kann zwar nicht überraschen, dass aber auch der Beamtenbund eine „über 60-prozentige“ Ablehnung des Schlichterspruchs vermeldet, wirft Fragen auf. Dort schien ein positives Votum nur eine Formsache zu sein. So lässt sich trefflich darüber spekulieren, ob differierende Abstimmungsresultate die in den vergangenen Jahren gut eingeübte Solidarität zwischen Verdi und Beamtenbund allzu sehr belastet hätten.