Verdis „Troubadour“ in der Stuttgarter Oper Was nun, du großer böser Junge?
Paul-Georg Dittrich inszeniert Verdis „Trovatore“ an der Stuttgarter Oper als Gräuelfantasie des Schurken der Handlung, Graf Luna.
Paul-Georg Dittrich inszeniert Verdis „Trovatore“ an der Stuttgarter Oper als Gräuelfantasie des Schurken der Handlung, Graf Luna.
Dass die Bengel so verdammt schnell groß werden müssen! Erst munteres Schaukeln, Wippen, Klettern, dann ist der Spiel- ein Schreckensplatz, die Wippe ein Foltergerät, vom Klettergerüst hängen Schlingen wie vom Galgen. Plötzlich sind die Kinder erwachsen. Und es herrscht Krieg. Was passiert da im Stuttgarter Opernhaus? Dem Regisseur Paul-Georg Dittrich gelingt das rare Kunststück, einen sehr plausiblen Zugang zu Verdis als fürchterlich unplausibel verschrienem „Trovatore“ (Der Troubadour) zu finden. Er versetzt die erste Szene in eine Vorkriegs-Kinderwelt, wo Buben und Mädchen den Spielplatz stürmen, um erwachsen als Sturmtrupp zu erwachen. Was zusammenhängt mit dem Gräuelmärchen, das ihnen der Haudegen Ferrando (Michael Nagl mit robustem Bariton) als peitschenknallender Kinderdompteur erzählt: von der Hexe, die einen kleinen Jungen verhext und dafür auf dem Scheiterhaufen büßen muss; von Azucena, der Tochter der Hexe, die Rache schwört, denselben Jungen entführt und ins Feuer wirft.
Schon bei Verdi, erst recht bei Dittrich ist die Story zwischen Fake und Fakt traumatisch: für Azucena, die das eigene statt das geraubte Kind tötete; für den Grafen Luna, den Bruder des Totgeglaubten; diesen selbst, den Troubadour Manrico, den Azucena als ihren Sohn aufzog. Jetzt ist er Feind des unerkannten Bruders im Bürgerkrieg und erfolgreicher Rivale um die Gunst Leonoras, der Luna mit einer durch Eifersucht gepanzerten Obsession verfallen ist.
Im Gluteifer von Hass und Rache ist es Luna, der den Fluch der bösen Tat fortzeugt – zumindest in seinen zwanghaften Vorstellungen. Dittrich setzt ihn an die Rampe, lässt ihn wüten in wüsten Visionen, wähnen in zeitraffender Erinnerung, die zurückblendet in die verklärte Kindheit, als der Bruder noch da und nur ein Gegner zum Balgen war (zwei Kinderstatisten stellen die Knaben dar). Dass die Handlung im Hirn ihres eigenen Bösewichts stattfindet, macht das Unlogische des Librettos (psycho-)logisch. Aus der Schwäche der Sprunghaftigkeit gewinnt Dittrich die Stärke der Einzelbelichtungen, hervorgehoben durch Zäsuren mit Textcollagen aus Heiner Müllers mythisch dampfender Familienhorrorküche. Dittrich nimmt das Stück auch als Belcanto-Reißer ernst. Die Partitur, die mit Trommelwirbeln und Fanfare wie Zirkusmusik beginnt, handelt von und mit sängerischer Hochseilakrobatik. Wie der Zirkus ist das Imaginäre der Inszenierung, ein fantastischer Raum, wo Traum und Realität ineinandergleiten. Traumata werden Umtata, das Grauen federt im Puls der Musik, dem Sprungbrett für ekstatische Kantilenen.
Ein virtuoser Breakdancer macht das Zirzensische in der Stretta des Duetts im vierten Teil auch sichtbar. Fürs Hörbare sind Selene Zanetti als Leonora und Atalla Ayan als Manrico zuständig: Zanettis Sopran leuchtet in der mittleren Höhe, ganz oben wird es enger, das Timbre stechend. Ayan legiert edles lyrisches Espressivo und dramatische Kraft, fürs hohe C (das Verdi bekanntlich nicht notiert hat) fehlt ihm der trompetende Squillo. Kristina Stanek als Azucena ist schlicht ideal für den von Verdi geforderten Mezzo-Typ: Sie verfügt über sonore Tiefe und erschütternde Intensität auf der nach oben offenen Tonhöhenskala. Mit Macht protzt, wie es sich als Luna gehört, Ernesto Pettis Bariton, kann aber auch feineres Rachengold schmelzen. Ohne gelegentliches Detonieren wär’s stimmlich perfekt, ohne die abgedroschenen Rampenposen auch darstellerisch. Antonello Manacordas eher klassizistisch prägnante als romantisch verwobene Verdi-Interpretation drängt sich nicht vor den Gesang, gibt ihm aber Feuer. Nur offenbart die Klarheit auch den kleinsten rhythmischen Rumpler. Doch trotz Schöngesang werden weder Luna noch Azucena ihre traumatischen Bilder los. Dass die Kolportage des Albtraums in der Wahl ihrer Mittel so wenig zimperlich ist wie die Pulp Fiction des „Trovatore“, nützt Dittrich für die Montage von Kitsch, Trash, Horror und Comedy zu wundersamer Surrealität.
Azucenas „Zigeuner“ (jaja, das Wort wird im Programmheft ordnungsgemäß problematisiert) sind eine Artistentruppe, die Luna seine Gewaltfantasien vorspielt. Die Klosterkirche im zweiten Teil leuchtet wie in putziger Schneekugel-Szenerie, im dritten Teil sind Leonora und Manrico im Nachkriegsspießeridyll der 50er-Jahre angelangt: mit Glockenrock, Shorts und Picknick (Kostüme: Mona Ulrich). Eine Illusion, denn der Feind hat sie umzingelt, auch wenn vom ewigen Krieg nur eine Krüppelparade aller Zeiten und Nationen übrig blieb. In Lunas Bauchdecke klafft die Wunde der Erinnerung. Im ersten Teil waren er und sein Bruder sich noch als zwillingshafte abgestiegene Cowboys begegnet: Lonesome Killer mit totem Pferd, dessen Kadaver Leonoras Vertraute Ines (Itzeli Jáuregui) sanft streichelt – sinnlos letzte Hilfe in der Sterbenswelt von Christof Hetzers Bühne, dem Inneren eines großen Sargs mit Licht am Ende des Tunnels. Aber ans Licht gelangt niemand.
Luna, der einzige Überlebende, wechselt zuletzt nur in eine Parallelsargwelt. Ein Untoter, Unreifer, ein gewalttätiger Sisyphos, die nie sein Ziel erreicht. Und was nun, du großer böser Junge? Noch mal von vorn! Durchs Assoziationschaos von Dittrichs Inszenierung, die das Premierenpublikum polarisierte, zieht sich die Melancholie der Gewalt. Passt verdammt gut zu Verdis funkenschlagendem Nachtstück. Ein Knüller.
Il Trovatore: Vorstellungen am 12., 16. und 23. Juni sowie am 1., 4., 9. und 16. Juli.