So genannte „Messies“ können nichts wegwerfen und sammeln Berge von Kruscht und Müll an. Das Messie-Team des Vereins Fortis hilft im Kreis Böblingen in solchen Fällen. Man versucht in enger Absprache mit den Betroffenen, verwahrloste Wohnungen aufzuräumen.

Verzweifelte Menschen, die sich kaum noch durch den Müll in ihrer verwahrlosten Wohnung bewegen können, es herrscht komplettes Chaos. Dann kommt der Reinigungstrupp in Schutzanzügen, der das Problem im Handumdrehen löst: Der ganze Plunder fliegt in einen großen Container, es wird geputzt, und alle sind wieder glücklich. Diese Darstellung im Fernsehen hat mit der Realität einer professionellen, sozialpädagogischen Räumungshilfe nichts zu tun. Das weiß man nur zu gut beim Verein Fortis, der im Kreis Böblingen in vielen sozialen Problembereichen aktiv ist und 2022 sein 50-jähriges Bestehen feiert.

 

Alte Platten, CDs, Bücher und Zeitungen stapeln sich bis unter die Decke

„Bei uns geht es in erster Linie um die Menschen, nicht um die Sachen“, sagt Joachim Schönstein, Leiter der Region Leonberg bei Fortis und Koordinator der Messie-Teams des Vereins im Landkreis Böblingen. Der studierte Sozialarbeiter und Diakon sagt zur aktuellen Situation: „Corona hat unsere Arbeit in den letzten beiden Jahren deutlich erschwert. Aktuell haben wir eine hohe Nachfrage.“ Jährlich betreuen er und mehrere Mitarbeiter etwa zehn Menschen, die zwangshorten. Fortis hilft, wieder Ordnung zu schaffen.

Die umgangssprachliche Bezeichnung Messie ist vom Englischen mess („Durcheinander“) abgeleitet. Gemeint ist damit das übermäßige Ansammeln von Gegenständen und die Unfähigkeit, sich davon zu trennen. „Das Messie-Syndrom kann auch als Wertbeimessungsstörung bezeichnet werden“, erklärt Schönstein. Weil Betroffene bestimmten Dingen einen übersteigerten Wert zumessen, haben sie Schwierigkeiten, sich von ihnen zu trennen. Gründe dafür können eine Depression, eine Persönlichkeitsstörung und Suchterkrankungen sein.

Ein eindrücklicher Fall ist Dietmar Brunner (Name geändert) in Leonberg. Bei ihm stapeln sich alte Platten, CDs und Bücher bis unter die Decke, er hortet Zeitungen und Konzertprogramme, überall liegt Haushaltsmüll. Die Küche ist nicht mehr nutzbar, das Bad gerade noch so. Der 65-Jährige sieht sich selbst nicht als Messie und sagt: „Ich horte nicht. Ich kann mich schwer von etwas Gedrucktem trennen.“ Er sitzt alleine auf dem Sofa, und es wirkt, als habe er sich eingemauert in Papier. Seit vor gut zehn Jahren seine Lebensgefährtin verstarb, ist etwas weggebrochen, und er klammert sich an Dinge. Brunner schämt sich, kämpft mit den Tränen: „Ich habe gedacht, dass ich der einzige in Leonberg bin mit einer so verwahrlosten Wohnung.“ Er hat schon versucht, Ordnung zu machen, Kartons und Putzmittel sind da – aber alleine schafft er es nicht.

Nach Telefonaten und einem Gespräch auf neutralem Grund betritt Schönstein als erster Besucher seit Jahren die Wohnung von Brunner. Feingefühl und Verständnis sind das A und O für die Arbeit der Messie-Teams. Denn nur zusammen mit den Betroffenen geht es: Es wird in ihrem Tempo gearbeitet, um die Lebenssituation zusammen zu verbessern. Scheu vor Schmutz, Enge und unangenehmen Gerüchen dürfen die Fortis-Mitarbeiter indes nicht haben. „Die Mitarbeiter schätzen die Arbeit im Messie-Team sehr, ergänzend zu ihren üblichen Aufgaben im betreuten Wohnen unserer gemeindepsychiatrischen Hilfen“, so Schönstein. Sie sehen zum einen die Notwendigkeit, zum anderen sind konkrete Arbeitserfolge gut sichtbar – das motiviert. Allerdings kommen die Mitarbeiter in zivil und nicht mit dem großen Transporter. „Anonymität ist bei unserer Räumungshilfe wichtig“, sagte Schönstein. Zu Beginn werden Dinge weggeräumt, von denen sich die Messies leichter trennen können. „Vom Leichten zum Schweren“, benennt Schönstein die Vorgehensweise. In Brunners Fall ist es beispielsweise einfach, den Hausmüll, leere Verpackungen, kaputte Gegenstände und alte Duschgels zu entsorgen. „Vorrang hat, Räume wie Küche, Bad und WC wieder nutzbar zu machen“, sagt Schönstein. Konkret hilft er bei Reinigungsarbeiten, beim Sortieren von Müll und beim Entsorgen. „Wenn wir in manchen Fällen zu Beginn gleich einige Fenster putzen, kommt Leben von außen rein und das erzeugt eine Aufbruchsstimmung“, sagt Schönstein.

Betroffene schätzen, dass nichts hinter ihrem Rücken passiert

Nur was ist mit dem Gedruckten, an dem Brunner so hängt? „Bei den Zeitungen haben wir uns zum Beispiel darauf geeinigt, dass wir nur die Ausgaben vom vergangenen Jahr behalten“, sagt der Sozialarbeiter. „Ich schätze diesen respektvollen Umgang und dass nichts hinter meinem Rücken gemacht wird“, sagt Brunner.

Nach einigen Wochen sind tatsächlich deutliche Fortschritte zu sehen, nach einem guten Jahr ist die Wohnung wieder in ordentlichem Zustand. „Ich hoffe, dass jetzt Ruhe in mein Leben einkehrt“, sagt Brunner. Für die Hilfe von Fortis ist er dankbar. Ob er es aus eigener Kraft schafft, den Zustand zu halten, weiß er noch nicht. Mit motivierenden Gesprächen und neu eingeübten Handlungsmustern soll der Erfolg dauerhaft bestehen bleiben.

Ein Verein, viele Angebote

Jubiläum
Gegründet 1972 feiert die diakonische Organisation Fortis in diesem Jahr ihren 50. Geburtstag. 110 Mitarbeiter sind im Landkreis Böblingen für den Verein von Standorten in Herrenberg, Sindelfingen, Böblingen und Leonberg aus tätig.

Betreuung
Jährlich werden über 1000 Menschen mit psychischer Erkrankung, Abhängigkeitserkrankung und Messie-Symptomatik ebenso wie Straffällige und Wohnungslose betreut und unterstützt. In einer losen Artikel-Serie geben wir Einblick in diese gleichsam kaum bekannte wie gesellschaftlich bedeutsame Arbeit.