Der Musikverein Rutesheim feiert derzeit sein 100-jähriges Bestehen. Vor 85 Jahre standen die Musiker vor ihrer größten Krise: Weil sie sich mit den Hitlergetreuen anlegten, wurden sie verprügelt. Sie trotzten dem Regime auf ihre Weise.

Der Musikverein Rutesheim (Kreis Böblingen) hat zu seinem 100-jährigen Bestehen einiges aufgefahren. Den Höhepunkt bildete ohne Frage der Auftritt des Musikkorps der Bundeswehr am Dienstag vor vollen Reihen. Der Erlös des Benefizauftritts der hochkarätigen Musiker fließt in die Jugendarbeit des Musikvereins – und damit in eine erfolgreiche Zukunft.

 

Inflation ereilt Verein kurz nach der Gründung

Zum 100. Geburtstag gehört auch der Rückblick. Ein besonderes Schlaglicht soll an dieser Stelle auf ein ganz besonderes Ereignis geworfen werden: einer wahrhaften Schlägerei zwischen dem Musikverein und Nationalsozialisten. Aber der Reihe nach.

Der Euphorie der Gründung des Musikvereins Rutesheim (MVR) im Jahr 1921 folgten bald große wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die wurden von der Hyperinflation noch verstärkt. Anfang 1923 wurden die Mitgliedsbeiträge von 30 Pfennig für aktive Mitglieder auf 1630 Mark pro Monat erhöht. Doch auch das war nach kürzester Zeit vollkommen wertlos, wenn man bedenkt, dass im Herbst 1923 der Wert des höchsten deutschen Geldscheines mit 100 Billionen Mark beziffert wurde.

Stagnierende Mitgliederzahlen, schlechte Versammlungsbesuche und wirtschaftliche Not, auch fehlte ein kompetenter Dirigent – die ersten Jahre hätten nicht schwieriger sein können. Dennoch nahmen die Mitglieder immer wieder neue Anläufe, um ihren Verein am Leben zu halten. Für das Herbstfest 1927 wurde eine Uniform organisiert: ein rosa Hemd mit weißer Hose sowie eine weiße Mütze.

Mit dem neuen Dirigenten zieht ein neuer Takt ein

Im Jahr 1931 trat der MVR in den Verband Alt-Württemberg ein. Ein neuer Dirigent namens Rommetsch übernahm den Taktstock. Sein Gehalt betrug zehn Mark pro Abend; eine Mark davon schenkte er dem MVR, weil der Verband seine Unterkunft zahlte. Rommetsch war zuvor Wachtmeister beim Trompeterchor des Reiterregiments 18 gewesen.

Die militärische Herkunft machte sich bemerkbar: Es wurde fleißig geprobt, sodass frischer Wind in den Verein kam. 1931 hielt Schriftführer Karl Mayer in den Vereinsannalen fest „daß unsere kleine Musikschar eine sehr leidenschaftliche ist, die mit aller Energie dabei ist“. Endlich stand der Musikverein in voller Blüte.

Die positive Entwicklung erfuhr durch den Regierungsantritt der NSDAP im Januar 1933 und die bald folgende Gleichschaltung einen herben Dämpfer. Vorstand und Ausschuss des Vereins wurden fortan von der Partei mitbestimmt, ein Ausschussmitglied musste aus dem nationalsozialistischen Gemeinderat gestellt werden, und nicht zuletzt hatte das Orchester auf Parteiveranstaltungen zu spielen. Eigeninitiative und Selbstorganisation wurden durch Staatsdirigismus und Hierarchie ersetzt.

Für den Musikverein Rutesheim bedeutete das noch vor dem Krieg das endgültige Aus. Im Jahr 1934 wurden Musik-, Gesang- und Sportverein zu einem einzigen großen Gesamtverein zusammengeschlossen – gegen das Votum der Vereinsmitglieder.

Musiker protestieren auf ihre Art

1937 kam es dann zum Eklat. Am 1. Mai spielte der MVR auf einer Parteiveranstaltung, die er nach Musikerart sprengte. Nach einem Musikstück brach Dirigent Wilhelm Kruck schlagartig ab, und die Musikanten versammelten sich zum Umtrunk in ihrem Probelokal.

Da sie am gemeinsamen Essen nicht teilnahmen und den Nazis auch die traditionellen rosa Hemden und weißen Hosen der Musikanten ein Dorn im Auge waren, zettelten örtliche NSDAP-Mitglieder und Angehörige der SS eine wüste Schlägerei an. Am nächsten Tag mussten alle Musikanten – auch die Minderjährigen – im Rathaus vorstellig werden. Die Gemeindeverwaltung zwang den Dirigenten zur Aufgabe, strich dem Verein die Zuschüsse und entzog ihm damit die finanzielle Grundlage.

Folglich verlangte der Verein seine Streichung bei der Fachschaft Volksmusik der Reichsmusikkammer. Letztere hatte die Aufgabe, systemkonforme oder dem NS-System genehme Musik zu fördern, aber solche zu unterdrücken, die der gewünschten Gesinnung oder Kulturauffassung widersprach. Die Kammer war nicht erbaut, dass eine Kapelle, die doch bei NS-Veranstaltungen musizieren sollte, aufgelöst wird. Doch das Rathaus unter Bürgermeister Friedrich Raich blieb hart und argumentierte, es scheitere an der Dirigentenfrage.

Instrumente werden eingezogen – aber nicht für lange

Nicht zuletzt wurden dem Musikverein sämtliche Instrumente eingezogen und auf dem Dachboden der Schule eingelagert. Dort lagen sie jedoch nicht lange. Nacht für Nacht stiegen die Musiker heimlich auf den Dachboden und holten ein Instrument nach dem anderen. So konnten sie wenigstens zu Hause etwas musizieren; Privatinstrumente wurden ja nicht abgenommen.

Ab und an wurde in der Folgezeit wieder geprobt, allerdings bestanden die Musikanten auf „ihrer“ rosa-weißen Uniform. Sämtliche Anfragen der NSDAP, auf ihren Veranstaltungen zu spielen, wurden abgelehnt. Diese war nun gezwungen, auswärtige Kapellen nach Rutesheim zu holen. Die wenigen verbliebenen Musikanten erreichte im Herbst 1939 während einer gemeinsamen Probe der Stellungsbefehl. Mit Kriegsbeginn endete somit die Geschichte des Musikvereins Rutesheim für knapp ein Jahrzehnt.