Bis heute kann es sein, dass eine Partei mehr Sitze im Bundestag hat, als sie Stimmen bekommen hat. Dagegen hat die Opposition geklagt. Das Bundesverfassungsgericht verhandelt nun über das Wahlrecht und dessen Reform.

Karlsruhe - Man kann schon ins Grübeln kommen, weshalb das Bundesverfassungsgericht sich so ungewöhnlich ausführlich und ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt mit dem deutschen Wahlrecht beschäftigt. Schon die Formalien sprechen dafür, dass die Karlsruher Richter ihre Probleme auch mit dem neuen Wahlrecht haben. Und bei der mündlichen Verhandlung am Dienstag wurde klar, wo diese Probleme vor allem liegen: Bei den Überhangmandaten. Das ist überraschend, denn die Überhangmandate gibt es seit Langem. Das Verfassungsgericht hat sie mehrfach geprüft und bisher keinen entschiedenen Anstoß daran genommen.

 

Das neue Recht wurde viel zu spät beschlossen

Das neue Recht wurde erst 2011 viel zu spät vom Bundestag, genauer gesagt von dessen liberal-konservativen Mehrheit beschlossen. Denn die Verfassungsrichter hatten bereits 2008 das alte Wahlrecht mit einer überzeugenden Begründung für verfassungswidrig erklärt. Damals ging es allein um das „negative Stimmgewicht“, eine Paradoxie, die dazu führen kann, dass eine Partei mehr Parlamentssitze erringen kann, wenn sie weniger Stimmen bekommt, oder weniger Abgeordnete stellen darf, wenn sie mehr Stimmen bekommt. Das müsse verhindert werden, so die Richter.Union und FDP haben sich bei ihrer Gesetzgebung vergleichsweise eng an die Karlsruher Vorgaben gehalten, sie haben sogar einen der Wege beschritten, die Karlsruhe damals vorgeschlagen hat. Natürlich liegt der Verdacht nahe, die Regierungsparteien hätten sich vom eigenen Vorteil leiten lassen. Die Experten haben aber nachgerechnet und sind zu dem Schluss gekommen, wäre 2009 bei gleichem Stimmergebnis nach dem neuen Wahlrecht gewählt worden, dann wäre die Union die einzige Partei, die in einem etwas größeren Parlament nicht mehr Abgeordnete stellen dürfte. Sie behielte ihre Mandatszahl. SPD und Linke bekämen dagegen je einen, Grüne und FDP je zwei Abgeordnete mehr. Das spricht nicht für Selbstbedienung.

Das deutsche Wahlrecht ist kompliziert, weil es gerecht sein will. Es verbindet die Personenwahl (die Erststimme bei der Bundestagswahl) mit dem Verhältniswahlrecht (der Zweitstimme bei der Bundestagswahl). Gäbe es nur ein Mehrheitswahlrecht wie in Großbritannien, dann hätte die Union 2009 eine Übermacht mit 436 Abgeordneten errungen. Gäbe es das reine Mehrheitswahlrecht, hätten die Parteien mit ihren Listen und der Reihenfolge der dort aufgestellten Politiker noch mehr Macht, und es gäbe keine Wahlkreisabgeordneten, die sich um die Sorgen vor Ort kümmern. Das deutsche Wahlrecht ist im Kern vernünftig. Es hat sich bewährt. Daran zweifelte auch in der mündlichen Verhandlung niemand ernsthaft.