Was passiert hinter den Kulissen des Bundesverfassungsgerichts, wenn eine Sammelabschiebung nach Afghanistan läuft? Es ist schwer, richtig zu entscheiden, sagt Ulrich Maidowski, dessen Senat dann auf Hochtouren arbeitet.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Karlsruhe - Die Verwaltungsgerichte ächzen unter 300.000 offenen Fällen. Ulrich Maidowski ist Richter am Bundesverfassungsgericht. Er sagt: Um richtig zu entscheiden, braucht man die kritische Distanz zu sich selbst.

 
Herr Maidowski, muss ein Asylrichter neugierig sein?
Es geht nicht ohne Neugierde. Er soll Tatsachen aufklären, zu denen wir normalerweise keinen Zugang haben. Er darf sich nicht nur auf die vorgetragenen Fakten beschränken, er muss den Hintergrund des Landes verstehen, um das Erzählte einordnen zu können. Aber natürlich muss er auch Grenzen finden, er muss ein Ende seiner Aufklärung definieren.
Wie machen Sie das, wenn der Fall am Nachmittag beim Verfassungsgericht reinkommt und der Betroffene schon auf dem Weg zum Flughafen ist.
Das ist eine unbefriedigende Situation. Es hilft uns ein bisschen, dass wir beim Verfassungsgericht nicht die sind, die verbindlich und schon gar nicht nach zwei Stunden sagen können, nach Afghanistan kann man generell nicht mehr abschieben oder man kann noch abschieben. Unser Auftrag ist ein anderer. Wir werden von dem Flüchtling, der in der ersten Instanz verloren hat, und deshalb der Abschiebung entgegen geht, angerufen und um die Kontrolle der erstinstanzlichen Entscheidung gebeten. Wir fragen uns, ob das Verwaltungsgericht mit seiner Entscheidung das getan hat, was es tun musste. Wir dürfen nicht dem Verwaltungsgericht bei der Auslegung des einfachen Rechtes reinreden. Wir sind keine Oberlehrer. Aber die verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien, also der Fairness, der Sachaufklärungspflichten überprüfen wir und da sind wir streng.
In zwei Stunden?
Wir stehen in Kontakt zu den Behörden, die die Abschiebung managen. Wir besorgen uns immer die Hotline zum betreffenden Flughafen. Unter Umständen bitten wir darum, noch eine Stunde zu warten. Denn es ist ja oft nicht nur ein Verfahren anhängig. Es kommen ja dann mehrere Anträge zu einem Abschiebungstermin. Dann sammeln sich alle, die in meinem Dezernat dafür wichtig sind, besonders also die wissenschaftlichen Mitarbeiter, und arbeiten zusammen an diesen Fällen. Für den Fall, dass wir stattgeben und eine Abschiebung stoppen wollen, müssen wir auch noch rechtzeitig mit zwei Verfassungsrichterkollegen Kontakt aufnehmen. Denn wir entscheiden das zu dritt als Kammer. Insgesamt ist dieser Zeitdruck nicht befriedigend, weil man oft das Gefühl hat, nicht so in die Tiefe gehen zu können. Aber mehr schaffen wir nicht. Eine Entscheidung zu vertagen, geht nicht.
Das heißt, Sie halten sich den Tag frei, für den eine Sammelabschiebung angekündigt ist.
Der „Apparat“ steht bereit. Das erfasst das ganze Gericht. Es fängt ja mit dem Eingangsfax an. Schon dort gehen vor dem Abschiebetermin Schutzschriften ein. Das heißt, Anwälte kündigen ein Verfahren an.
Hat ein Richter, der über die Gewährung von Asyl entscheidet, Zeit darüber nachzudenken, was er tut?
Niemand ist von gezwungen ein ausformuliertes Berufsethos für sich selbst vorzulegen, auch wenn ich finde, dass es wichtig ist. Am ersten Tag, nachdem Sie eingestellt sind, finden Sie einen Schreibtisch voller Akten vor. Dann nehmen Sie sich die oberste Akte. Spätestens nach zehn Minuten sind Sie in dieser Akte so tief drin, dass sie die fertig durcharbeiten. Und dann liegt da schon die nächste. Das kann immer so weitergehen, bis Sie pensioniert werden. Das ist aber nicht die Realität. Gerade die jungen Verwaltungsrichterinnen und -richter haben ein großes Interesse, sich zu vergewissern, was sie eigentlich machen.
Wie?
Sie treffen sich in ihrem Kreis und reden schlicht über Fälle, über ihre Berufsauffassung und all das, was man als Berufsanfänger eh ständig im Kopf hat. Gerade im Flüchtlingsrecht ist der Druck der Verfahrenslast so groß, dass man sehr schnell zu der Überzeugung gerät, darüber reden zu müssen, um nicht schon nach drei Jahren ausgebrannt zu sein. Oft sind dabei sehr hilfreich auch Kammervorsitzende oder ältere KollegInnen, die sich dazu setzen und für Fragen zur Verfügung stehen und dabei vielleicht auch ihre eigenen 15 Jahre Praxiserfahrung mal wieder reflektieren wollen.
Braucht man Lebenserfahrung, wenn man in Asylrechtsfragen entscheidet?
Lebenserfahrung hilft schon, besonders bei Fragen der Glaubhaftigkeit einer Fluchtgeschichte und der Glaubwürdigkeit der Klägerinnen und Kläger. Aber dort, wo wir über die Zustände in den Herkunftsländern entscheiden müssen, haben wir ja keine Lebenserfahrung - glücklicherweise, aber das macht es eben so schwer, richtig zu entscheiden.
Hilft es Ihnen, einen Teil Ihrer Kindheit in Afghanistan verbracht zu haben?
Das hilft unglaublich, obwohl es ganz, ganz lange her ist. Es war zwar ein friedlich Afghanistan. Ich habe aber gleichwohl gesehen, wie Mullahs mit Salzsäure unverschleierte Frauen angegriffen haben. Wenn man das als 15-Jähriger sieht, vergisst man das nicht. Dass dieses Land auch in Bezug auf seine Kommunikationsstrukturen anders ist, hat sich aber nicht geändert. Aber diejenigen, die diese Art von Lebenserfahrung nicht habe, können sie ersetzen. Sie brauchen die kritische Distanz zu sich selbst. Sie müssen sich ständig fragen, ob sie aus ihrer eigenen zufriedenen Lebenswelt heraus urteilen, oder ob sie offen für die Erkenntnis sind, noch viel fragen zu müssen über das Land, über das sie entscheiden. Und man muss den Mut haben, sich diese Zeit zu nehmen. Diese Herangehensweise beschränkt sich auch nicht auf Berufsanfänger.
Trotzdem gibt es Richter, die sich in ihren Urteilen etwa bei der Versorgungsmöglichkeit mit Medikamenten für Afghanistan auf Botschaftsangaben aus dem Jahr 2006 beziehen.
Das ist ein Problem. Eine der modernen Errungenschaften vieler Verwaltungsgerichte sind ins Internet gestellte Erkenntnismittellisten. Denn entscheidungserheblicher Zeitpunkt für Asylsachen ist der Tag der mündlichen Verhandlung oder der schriftlichen Entscheidung. Diese Erkenntnismittellisten sind ein unverzichtbarer Beitrag zu einem fairen Verfahren. Aber sie müssen natürlich topaktuell sein. Ich kann niemanden in ein Land abschieben, das sich fünf Jahre lang verändert hat, ohne dass ich das zur Kenntnis genommen habe.
Wie hält man das von Ihnen beschriebene Arbeitsethos, diese Mischung aus Distanz zum eigenen Tun und Mut, sich Druck von außen zu widersetzen, bei 300000 offenen Fällen durch?
Das ist ganz, ganz schwierig. Die Lösung ist nicht, 16 Stunden im Gericht zu sitzen. Ich kenne Kollegen, die das tun. Aber das klappt nicht, denn der Stapel bleibt letztlich immer gleich hoch. Vielmehr muss man zweierlei tun. Erstens: Man muss unterscheiden können. Das heißt, man muss schwierige von weniger aufwändigen Fälle unterscheiden können: In welchen Fall investiere ich besonders viel Zeit und wie profitiere ich davon in anderen Fällen? Zweitens, ganz schlicht: Man braucht neben der Arbeit etwas anderes. Musik, Familie, Sport. Das muss man sich erhalten.
Was meinen Sie, wenn Sie von der Lebenslüge des Asylrechts sprechen und damit die jungen, gesunden, alleinstehenden Männer im Blick haben?
Im Asylrecht gibt es scheinbare Gewissheiten, die Fälle bewältigbar machen und uns mit der Fülle umgehen lassen. Viele davon mögen stimmen. Aber man muss sich das Gefühl dafür bewahren, dass man auch solche Gewissheiten immer mal wieder hinterfragen muss. Die Idee, dass junge, gesunde Männer in ihren Heimatländern häufig keine Probleme haben werden, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ist ja erst mal einleuchtend. Und für viele Länder wird das auch stimmen. Aber wenn Sie dann eines Tages mal ein Gutachten lesen, in dem mit wirklich guten Argumenten von jemandem, der sich im Land auskennt, gesagt wird, dass sich die Lage geändert hat, dann muss das ernsthaft und ergebnisoffen bewerten und eine dieser scheinbaren Gewissheiten mal wieder von Null an prüfen.
Und den Mut haben, das dann auch gegen Druck durchzuziehen?
Das ist nicht einfach. Und man darf es auch nicht voreilig tun, ohne hinreichenden Anlass. Aber wenn man mal einer Frage nachgehen will, die für ganz viele Fälle eine andere Lösung bedeuten würde, wenn man anders entscheidet, dann muss man schon ein bisschen Mumm haben, sich mit seiner Neugier auf die Frage einzulassen und die daraus resultierenden Erkenntnisse auch durchzusetzen. Ich habe größten Respekt für alle, die das tun, da sie sich ihre Arbeit auf diese Weise ja auch noch ein bisschen schwerer machen.

Beruf: Ulrich Maidowski (59) ist seit 2014 Mitglied des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, der für Asyl- und Ausländerrecht zuständig ist. Zuvor war er nach Stationen an mehreren Verwaltungs-gerichten Richter am Bundesverwaltungsgericht. Auch dort war er für Ausländer- und Asylrecht zuständig. Er ist regelmäßiger Referent zu diesen Themen bei der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Person: Da sein Vater Lehrer im Ausland war, hat Maidowski seine Kindheit und Jugend in Tokio und Kabul verbracht. 1973 nach einem Putsch in Afghanistan kehrt die Familie aus einem Urlaub nicht nach Kabul zurück.