Der Chef des Verfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen, irritiert mit Äußerungen zu Chemnitz. Was bewegt ihn dazu?

Berlin - Ein großes Wort, gelassen ausgesprochen. Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen stellt infrage, dass es in Chemnitz zu „Hetzjagden“ auf Migranten gekommen ist. „Gute Gründe“ sprächen für gezielte Falschinformationen, um „die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken“. Fake News also. Ein Video, das sich im Internet schnell verbreitete und Übergriffe auf Menschen mit fremdländischem Aussehen zeigt – vielleicht nicht authentisch. Und sehr gelassen ausgesprochen. Nicht als offizielle Mitteilung der Behörde, sondern gegenüber der „Bild“-Zeitung. Damit stellt sich der Chef des Verfassungsschutzes erstens offen gegen Kanzlerin Angela Merkel, die sehr wohl den Begriff „Hetzjagd“ übernommen hat.

 

Zweitens deutet er beiläufig einen gigantischen Medienskandal an, denn unabhängig vom politischen Standort, egal ob Presse, Rundfunk oder Fernsehen – breit berichteten alle über die Chemnitzer Übergriffe. Alle Medien, deutet Maaßen an, könnten Opfer – doch wohl linker – Ablenkungsmanöver sein. Und drittens nimmt der Jurist Maaßen das Gerichtsurteil lässig vorweg, wenn er bereits von „Mord“ spricht. Abgesehen davon, dass der Prozess noch längst nicht stattgefunden hat, ist im Haftbefehl gegen die Verdächtigen von „Totschlag“ die Rede.

Bislang konnte Maaßen keine Beweise vorlegen

Maaßen spricht – aber ohne dabei Beweise oder Indizien vorzulegen. Und entgegen der vielen Zeugenberichte, Videoschnipsel, journalistischen Recherchen zu Chemnitz und rund 120 eingeleiteten Ermittlungsverfahren. In einer am Freitagabend im Internet veröffentlichten Erklärung teilt der Verfassungsschutz lediglich mit, dass die „Prüfung insbesondere hinsichtlich möglicher ‚Hetzjagden’ von Rechtsextremisten gegen Migranten“ weiter andauern werde.

Dabei bläst Maaßen ohnehin gerade der Wind mächtig ins Gesicht. Bis zuletzt hatte er schon an zwei anderen Fronten zu kämpfen. Gerade ist herausgekommen, dass seine Behörde gegenüber dem Parlament zu Unrecht bestritten hat, einen V-Mann im Umfeld von Anis Amri, dem Attentäter vom Breitscheidplatz, platziert zu haben. Und dann ist da die Sache mit Maaßens seltsam zahlreichen Gesprächen mit Führungskräften der AfD.

Gibt es irgendeine Erklärung für dieses ungewöhnliche Auftreten? Wer dem 55-Jährigen Gutes will, sagt, Maaßen sei eben ein offener Typ. So viel ist unstrittig: Als er 2012 eine verunsicherte, vom NSU-Skandal erschütterte Behörde übernahm, war Transparenz das Gebot der Stunde. In gewisser Weise hat Maaßen geliefert. Kein Amtsvorgänger pflegte so regelmäßig Kontakt zum Parlament, auch zur Opposition. Das hatte ihm nicht jeder zugetraut. Als er das Amt antrat, gab es auch Stirnrunzeln. Eine uralte Sache aus dem Jahr 2002 wurde da herausgekramt.

Otto Schily (SPD) war damals Innenminister und Maaßen dort Referatsleiter für Ausländerrecht. In einem Rechtsgutachten untersuchte er , ob der im US-Gefangenenlager Guantánamo festgehaltene Deutsche Murat Kurnaz nach Deutschland zurückgeholt werden kann und soll. Maaßens Votum: Kurnaz’ unbegrenztes Aufenthaltsrecht in Deutschland sei verfallen, da er mehr als sechs Monate außer Landes gewesen sei und sich nicht bei den zuständigen Behörden gemeldet habe – was von Guantánamo aus wohl nicht so einfach gewesen sein dürfte. Die ehemalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) nannte das Gutachten „falsch, empörend und unmenschlich“. Wer Maaßen dagegen Böses will, unterstellt ihm ein gestörtes Verhältnis zur Presse, das dieser Tage erneut zum Ausdruck komme.

Was denn nun also: Ist er zu offen, zu sehr getrieben von Misstrauen gegenüber der Presse – oder, dritte Möglichkeit, hat er ganz einfach die politische Orientierung verloren? Noch im Juni hat Maaßen eine gesellschaftliche Debatte über den Linksextremismus gefordert und der zunehmenden Gewalt aus diesem Bereich.

Seehofer spricht Maaßen sein Vertrauen aus

Maaßen ist angeschlagen. Sein Verbleib im Amt ist unmittelbar abhängig davon, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer weiter seine Hand über ihn hält. Der CSU-Chef hat eine ganz eigene Agenda. Sein zäher Kleinkrieg mit der Kanzlerin dauert an. In Unionskreisen wird offen darüber spekuliert, dass Maaßens Vorstoß eine Auftragsarbeit gewesen sei. Ein Doppelschlag: Erst platziert der Minister sein vieldeutiges Wort von der Migration als „Mutter aller Probleme“, dann legt der Präsident des Verfassungsschutzes damit nach, die Sicht der Kanzlerin auf die Ereignisse von Chemnitz offen in Zweifel zu ziehen. Ist das zu weit hergeholt?

Als Regierungssprecher Steffen Seibert am Freitag nach der Unterstützung für Maaßen gefragt wurde, antwortete er lakonisch: „Herr Maaßen hat eine wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe.“ Was eher wie eine Drohung klang. Ob Maaßen weiter Seehofers Vertrauen genieße, beantwortet Seehofers Sprecher dagegen unmissverständlich: „Selbstverständlich.“

Aber das Eis wird dünn. Es hagelt Rücktrittsforderungen. Nicht nur von den Grünen und den Linken. Burkhard Lischka, der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagfraktion, sagt sehr bildhaft: „Wer sich so weit aus dem Fenster lehnt, verliert ganz schnell auch mal den Halt.“ Wirklich bedrohlich muss aber in Maaßens Ohren klingen, was der immer bedachte CDU-Innenpolitiker Armin Schuster sagt. Er verlangt von Maaßen Belege für seine Thesen. In der Sondersitzung des Bundestags. Schuster: „Da muss er liefern.“ Noch deutet aber nichts darauf hin, dass er das kann.