Fünf Jugendliche sollen in Mülheim eine Frau vergewaltigt haben. Nachrichten wie diese scheinen nahezulegen: Die Jugend wird immer gewalttätiger. Doch stimmt das überhaupt? Ein Faktencheck.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Stuttgart/Mülheim - Nach der mutmaßlichen Gruppenvergewaltigung einer 18-jährigen Frau in Mülheim durch drei 14-jährige und zwei zwölfjährige Tatverdächtige ist eine Debatte um das Alter für Strafmündigkeit entbrannt.

 

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht hat sich gegen eine Absenkung des Strafmündigkeitsalters ausgesprochen. Der Fall in der Ruhrgebietsstadt habe sie entsetzt, „Empörung allein ist aber kein guter Ratgeber“, sagt die SPD-Politikerin und ergänzt: „Strafrechtliche Verantwortung setzt einen bestimmten Entwicklungsstand voraus, der bei Kindern unter 14 Jahren regelmäßig nicht gegeben ist.“

Soll das Strafmündigkeitsalter für jugendliche Täter gesenkt werden?

Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt fordert dagegen, das Alter für die Strafmündigkeit von 14 auf zwölf Jahre herabzusetzen.

Dem widerspricht der Deutsche Richterbund. „Die Gleichung ‚Mehr Strafrecht gleich weniger Kriminalität‘ geht bei den Jugendlichen nicht auf“, erklärt der Verbandsvorsitzende Jens Gnisa. Das Jugendstrafrecht habe sich im Grundsatz bewährt. „Es hat durch den darin niedergelegten Erziehungsauftrag zu einem deutlichen Rückgang der Jugendkriminalität geführt“, betont Gnisa. Man sehe daher auch keine Notwendigkeit, das Alter für Strafmündigkeit von 14 auf zwölf Jahre herabzusetzen.

Auch der Deutsche Kinderschutzbund spricht sich deutlich gegen einen solchen Schritt aus. Vielmehr sei das Jugendamt gefordert, zu reagieren und sich die Ursachen für das Verhalten des Kindes im Einzelfall anzuschauen, sagte die stellvertretende Geschäftsführerin Martina Huxoll-von Ahn.

Was ist in Mülheim passiert?

Nach der Gruppenvergewaltigung in Mülheim soll es am Sonntag zu einem weiteren Sexualdelikt von Kindern und Jugendlichen in der nordrhein-westfälischen Stadt gekommen sein. Wie eine Sprecherin der Duisburger Staatsanwaltschaft sagte, soll eine Jugendliche von fünf Tatverdächtigen eingekreist worden sein. Zwei der fünf sollen das Mädchen dann angefasst haben.

Nach einem Bericht der „Bild“-Zeitung war einer der fünf Verdächtigen erst 11 Jahre alt, die anderen 15 bis 17 Jahre. Das Mädchen soll 15 Jahre alt sein. Passiert sei die Tat kurz vor 22 Uhr an einer Haltestelle, nachdem die 15-Jährige einen Linienbus verlassen hatte.

Wie kriminell sind Minderjährige in Deutschland?

Nimmt die Zahl der gewaltbereiten Minderjährigen zu? Nein, im Gegenteil. Laut einer im Januar 2018 veröffentlichten Langzeitstudie der Kriminologen Dirk Baier, Christian Pfeiffer und Sören Kliem ist die Jugendkriminalität in Deutschland stark rückläufig.

Demnach hat sich zwischen 2007 und 2015 der Anteil der Tatverdächtigen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren pro 100 000 Jugendliche halbiert – ein Minus von 50,4 Prozent.

Was macht Jugendliche zu Kriminellen?

Faktoren, die diese Entwicklung begünstigen, sind laut der Langzeitstudie („Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland – Schwerpunkte: Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer“) vor allem der Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit, der deutlich gesunkene Alkoholkonsum unter Heranwachsenden sowie der Anstieg des Bildungsniveaus.

Auch würden weniger Schüler dem Unterricht fernbleiben. Schulschwänzen ist den Experten zufolge ein „Risikofaktor für Gewaltverhalten“.

Ist bessere Bildung ein Mittel gegen Jugendkriminalität?

Das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg schreibt in seinem „Faktencheck Jugendkriminalität“: „Auch wenn viele bei Jugendlichen gegen das Gesetz verstoßen, wächst sich dieses Verhalten in der Regel von selbst aus. Der Höhepunkt ist meist mit 14 oder 15 Jahren erreicht, danach nimmt die Neigung, rechtliche Grenzen zu überschreiten deutlich ab.“

Sind Migranten häufiger die Täter?

Nein. Die Zahl der Gewalttaten bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist der Studie des Freiburger Max-Planck-Instituts zufolge deutlich zurückgegangen.

Studien aus Städten mit vielen Migranten wie Hannover oder Duisburg haben der Max-Planck-Gesellschaft zufolge gezeigt: „Wenn junge Migranten gleichwertige Bildungschancen bekommen wie deutsche Jugendliche, gehen auch die Unterschiede in der Gewalttätigkeit zurück.“

Verroht Deutschlands Jugend?

Alle Daten – Polizeiliche Kriminalstatistik genauso wie Dunkelfeldstudien des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) – belegen, dass die Zahl der Straftaten sinkt. Der sprunghafte Anstieg der Sexualdelikte führt auf die Reform des Strafrechts bei solchen Taten nach der Kölner Silvesternacht 2015/16 zurück. So wurde der Straftatbestand sexuelle Belästigung neu geschaffen.

Hinzu kommt, dass solche Delikte heute häufiger angezeigt werden. „Eine generelle Verrohung in unserer Gesellschaft kann ich nicht erkennen. Das heißt aber nicht, dass bei Einzelnen oder Gruppen das Verhalten nicht eskaliert“, sagt KFN-Direktor Thomas Bliesener.

Werden Taten wie jetzt in Mülheim häufiger?

Sexualdelikte, in denen gleich mehrere Männer über Frauen herfallen, beschäftigen Polizei und Staatsanwaltschaft in Deutschland laut Polizeilicher Kriminalstatistik seit Jahren auf stets ähnlichem Niveau. So ermittelten die Behörden 2017 gegen 467 Tatverdächtige, die an Gruppenvergewaltigungen beteiligt gewesen sein sollen. Mehr als ein Drittel von ihnen sind Jugendliche oder Heranwachsende unter 21 Jahren, in aller Regel männlich.

„So etwas hat es auch in der Vergangenheit schon gegeben, heute werden solche Verbrechen jedoch stärker wahrgenommen“, erklärt der Kriminalpsychologe Rudolf Egg. Dass bestätigt auch Bliesener. „Im Verbund mit anderen kann die Selbstkontrolle aussetzen. Jugendliche denken nicht mehr darüber nach, was sie tun und welche Konsequenzen ihr Handeln hat.“

Was geht in den Köpfen von Gruppenvergewaltigern vor?

Fachleute sehen bei Gruppenvergewaltigungen eine gefährliche Kombination von Sexualität, Machtdemonstration und Gruppendynamik am Werk.

Bliesener: „Gerade bei Jugendlichen in Gruppen steigt die Bereitschaft für Grenzüberschreitungen.“ Es gebe Anführer, die andere ansteckten, Mitläufer, die zu feige seien, einzuschreiten, und Mittäter, die ihre Position in der Gruppe aufwerten wollten, erläutert Egg.

Ähnlich sieht es Christian Lüdke, Psychotherapeut und Experte für Täterverhalten: „Je größer die Gruppe, desto unwahrscheinlicher ist es, dass einer Stopp sagt.“ Stattdessen steigere sich der gemeinsame Tatrausch. „Es kann sogar sein, dass sich ein Wettkampf entwickelt, in dem jeder der härteste sein will.“

Warum haben viele Bürger den Eindruck, dass die Jugendgewalt zunimmt?

Experten machen dafür auch die Berichterstattung in den Medien verantwortlich. KFN-Direktor Bliesener zufolge haben sich die Meldungen über einzelne schwere Straftaten vervielfacht. „Der Leser kann das irgendwann nicht mehr auseinanderhalten. Dadurch wird die Wahrnehmung, wie häufig etwas passiert, massiv beeinflusst und die Häufigkeit von Gewalt überschätzt.“

Der Strafrechtler und Kriminologe Wolfgang Heinz von der Universität Konstanz erklärt: „Angst vor Kriminalität entsteht meist nicht durch eigene Erfahrungen, sondern durch sensationsheischende Berichterstattung.“ Der Druck, hohe Einschaltquoten und Auflagen erzielen zu müssen, führe dazu, dass über brutale Einzelfälle überproportional oft berichtet werde.