Machtkämpfe toben auch in der Sphäre des Kulturellen. Dabei könnte die Vielfalt der Stimmen eine Bereicherung sein, kommentiert Eva-Maria Manz.

Psychologie und Partnerschaft: Eva-Maria Manz (ema)

Der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki sah sich neulich schon von den Grünen dazu verdammt, auf den „zivilisatorischen“ Fortschritt des Duschens zu verzichten. Nun entbehrt es nicht einer Komik, wenn er und andere auch noch große Ängste anmelden, durch den „Rücksichtswahnsinn“ linker Gruppen, die als „woke“ bezeichnet werden, könnten Kindheitshelden wie Winnetou bald „verboten“ sein.

 

Man möchte die Augen fest zukneifen und die Welle der Peinlichkeit dieser intellektuell unterirdischen Scheindebatte über sich hinwegschwappen lassen. Was ist überhaupt geschehen? Der Ravensburger-Verlag hat zwei Kinderbücher aus dem Verkehr gezogen, die an die Winnetou-Bücher von Karl May lose angelehnt waren. Mays Winnetou kann man selbstverständlich weiter kaufen.

Bei genauem Blick ist nichts verdrängt oder verboten worden

Dass bestimmte Medien oder Politiker aus derart gewöhnlichen Vorgängen Erzählungen stricken, in denen von Verbot oder gar Zensur die Rede ist, muss misstrauisch machen. Während sich über Karl May ganz hervorragend intelligent streiten ließe, sprechen viele lieber schnell von „Cancel-Culture“. Bei genauem Blick ist jedoch nichts verdrängt oder verboten worden, und das steht auch nicht bevor. Im Gegenteil, für die Winnetou-Bücher läuft es besser denn je, sie sind wieder auf den Bestsellerlisten.

Der Ravensburger-Verlag hat etwas ungelenk – oder geschickt medienwirksam, darüber ließe sich auch streiten – auf Kritik an zwei Neuerscheinungen reagiert. Sein Vorgehen ist ökonomisch nachvollziehbar. Durch die Veröffentlichung von möglicherweise rassistischen Inhalten fürchtete er Einnahmeeinbußen. Das liegt nicht am Druck, den Twitter-Nutzer ausüben, sondern daran, dass die Stimmen in öffentlichen Debatten vielfältiger und lauter geworden sind. Und obwohl sich darunter auch Beiträge finden, die weit übers Ziel hinausschießen, ist es positiv, wenn heute Menschen zu Wort kommen, die früher überhört worden wären, als die Medienwelt noch viel homogener war. Die Kritik der Nutzer bezog sich ohnehin größtenteils nicht auf die Originalwerke von Karl May, die andere jetzt meinen, unbedingt verteidigen zu müssen. Und diese Vielfalt der Stimmen könnte eine große Chance sein, differenzierter zu streiten. Denn Kritik oder Fragen etwa danach, ob ein Werk rassistische Ansichten verbreitet, muss sich ein Kulturproduzent gefallen lassen.

Mit den Ängsten vieler Leute davor, das Vertraute zu verlieren, machen andere erfolgreich Politik

Für viele Leser ist es längst selbstverständlich, in einer Welt zu leben, in der sich Minderheiten an Diskussionen beteiligen und in der man selbst stetig den eigenen Blickwinkel hinterfragt. Diese Vielfalt möchten sie nicht mehr missen. Andere fühlen sich durch Kritik oder allein die Existenz anderer Sichtweisen bedroht. Auch in der Sphäre des Kulturellen toben Machtkämpfe, das zeigt sich nirgendwo deutlicher als an solchen Debatten.

Umso wichtiger ist es zu erkennen, dass diese Formen der kollektiven Aufregung weitreichend instrumentalisiert werden und das Wort „Cancel-Culture“ dafür ein willkommener Kampfbegriff ist. Mit den Ängsten vieler Leute davor, das Vertraute zu verlieren, machen andere erfolgreich Politik.

Freiheitseinschränkungen drohen aber nicht durch von Minderheiten oder Twitter-Aktivisten befeuerte Diskussionen über Kinderliteratur. Im Gegenteil, Minderheiten sind weltweit nach wie vor in Gefahr. Reaktionäre Rechte in Brasilien, den USA oder in Ungarn bedrohen die Freiheit etwa von Frauen, Transsexuellen oder Indigenen. In 69 Ländern weltweit wird Homosexualität noch immer strafrechtlich verfolgt, in 11 droht darauf die Todesstrafe. Die Gegner der freien, aufgeklärten Gesellschaft sitzen anderswo.