Stuttgart ohne Noverre-Gesellschaft? Eigentlich undenkbar, schaut man auf die Liste der Choreografen, die hier erste Ballette schufen. Und doch hat der Verein, der eben 60. Geburtstag feiert, seine Auflösung beschlossen.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - Mittwochabend im Schauspielhaus, auf der Bühne zeigt der junge Choreograf Adrian Oldenburger in seinem ersten Ballett „It’s what you make of it“ ein Paar zwischen Hoffen und Bangen: Ein Mann erhebt sich vom Krankenbett, schöpft Kraft aus der Liebe für einen letzten Tanz mit der Frau seines Lebens, um doch am Boden zu enden. Seufzendes Cello, klagendes Klavier, das ist der Sound des Abends, mit dem elf junge Choreografen und ganz viele alte der Noverre-Gesellschaft zum 60. Geburtstag gratulieren. Dem Jubilar wünschte man da noch eine frohere Zukunft. Und doch: In ihrer letzten, außerordentlichen Sitzung am 8. Mai hat die Noverre-Gesellschaft mit den Stimmen von 28 von 36 anwesenden Mitgliedern ihre Auflösung bis Ende des Jahres beschlossen – und das just am Tag nach der Premiere des Choreografen-Abends offiziell verkündet. In den Reihen der Mitglieder fand sich niemand, der auf den kranken Vorsitzenden Rainer Woihsyk folgen, der Sonia Santiago entlasten wollte, die seit mehreren Jahren intensiv, aber ehrenamtlich Vereinsarbeit und Organisation der Choreografen-Abende managt.

 

Einrichtung mit Vorreiterfunktion

Um die Bedeutung von Noverre für das Stuttgarter Ballett zu verstehen, reicht ein Blick auf den jüngsten Uraufführungsreigen die „Fantastischen Fünf“: Jeder der fünf Choreografen gab hier sein Debüt. Entsprechend aufmerksam verfolgte am Mittwoch auch der designierte Intendant Tamas Detrich eine neue Generation von Talenten – und ist fest entschlossen, diese vielfach kopierte Einrichtung zu retten, indem er sie direkt bei der Kompanie ansiedelt: „Der Name Noverre sowie der Sinn und Geist dieses Unterfangens würden auf alle Fälle erhalten bleiben“, sagt Detrich, jeder solle sich ausprobieren und experimentieren dürfen.

Das Stuttgarter Ballett möchte deshalb das Projekt Junge Choreografen unbedingt retten, diese seien immens wichtig für die Kompanie sagt der amtierende Intendant Reid Anderson wie auch sein Nachfolger Tamas Detrich, der im Gespräch mit den Vereinsmitgliedern versprach, „alles Mögliche zu tun, um diese einzigartige Plattform zu retten“.

Momentan geht der Verein den notwendigen rechtlichen Schritten für seine Auflösung nach, die bis Ende des Jahres abgewickelt sein dürfte. Tamas Detrich und das Stuttgarter Ballett erkunden momentan alle Möglichkeiten, die Jungen Choreografen in Zukunft direkt beim Stuttgarter Ballett unter einer qualifizierten künstlerischen Leitung anzusiedeln: „Der Name Noverre sowie der Geist und Sinn dieses Unterfangens – jeder kann, soll und darf sich choreografisch ausprobieren und vor allem experimentieren – würde auf jeden Fall erhalten bleiben!“, so Detrich.

Bereicherung für die Tanzstadt Stuttgart

Reid Anderson dankt dem Verein für seinen langen Einsatz für den Tanz: „Ohne den unermüdlichen ehrenamtlichen Einsatz von Rainer Woihsyk und – vor allem in den letzten fünf Jahren – von Sonia Santiago wäre unsere Tanzstadt Stuttgart um einiges ärmer gewesen. Ihnen sowie allen anderen ehrenamtlichen Helfern der Gesellschaft gebührt unser aller Dank.“

Der Abend „Junge Choreografen“, die weltweit erste Plattform für die gezielte Entdeckung und Förderung des Nachwuchses, hat sich seit fast sechzig Jahren nicht nur in Stuttgart etabliert, sondern gilt als Vorreiter weltweit ähnlicher Formate. Mehr als 200 Choreografen schufen bislang rund 400 Uraufführungen. 1958 von Fritz Höver gegründet, legte die Noverre-Gesellschaft den Grundstein für die bis heute anhaltende Stuttgarter Ballettbegeisterung und rief gemeinsam mit John Cranko erste ballettvermittelnde Vorträge ins Leben, die die Basis für die daraus entstehenden Choreografen-Abende bilden sollte.