Jährlich müssen in Stuttgart 3000 Autofahrer pausieren, weil sie eine rote Ampel missachtet haben. Das ist aber nur die Spitze eines Eisbergs.

Lokales: Wolf-Dieter Obst (wdo)

Stuttgart - Ja, geht’s noch? Die Ampel zeigt sozusagen Dunkelrot, als vor den Augen einer Streifenwagenbesatzung ein Ford Fiesta beim Funkhaus zügig nach rechts abbiegt. Offenbar gilt abends gegen 22 Uhr an der Ecke Villa- und Neckarstraße eine Ampel nichts mehr. Dabei gibt es dort überhaupt eine der wenigen Blitzanlagen, die Rotlichtsünder automatisch ins Visier nehmen und abschrecken sollen. Es soll nicht die einzige rote Ampel sein, die der Ford-Fahrer missachtet. Als am Streifenwagen das Blaulicht blinkt, gibt der Fahrer Vollgas.

 

Seit dem letzten Jahr schlägt die Polizei Alarm: Ein zunehmend laxer Umgang mit Verkehrsregeln, dazu eine abnehmende Aufmerksamkeit und mangelnde Rücksicht, hieß es bei der Vorstellung der Unfallbilanz. Und vor allem: Die Rotsünder seien kaum in den Griff zu bekommen. Die Stuttgarter Verkehrspolizei hat deshalb ihre Kontrollen verstärkt – und dabei ein offenkundiges Dunkelfeld aufgehellt. Hatte man 2013 noch knapp 400 Sünder auf frischer Tat ertappt, so waren es 2016 bereits mehr als 1000. Ein Wert, der 2017 weiter nach oben kletterte: Die Verkehrsüberwacher dokumentierten 1103 Rotlichtfahrten.

Zwei Schwerverletzte im Hafengebiet

„Die Erwischten behaupten meist, es sei noch Gelb gewesen“, sagt Polizeisprecher Jens Lauer, „oder sie hätten gedacht, dass es noch reichen würde.“ Die Sündenfälle haben mitunter drastische Folgen. Am Montagabend etwa war ein 55-jähriger Fahrer eines VW-Transporters gegen 21.40 Uhr im Hafengebiet auf den Otto-Konz-Brücken unterwegs. Zeugen beobachteten, wie er auf Höhe der Straße Am Westkai über die rote Ampel fuhr. Dabei kollidierte er mit dem Smart eines 25-Jährigen, der nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte. Beide Fahrer wurden schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht. Warum hatte der 55-Jährige die Ampel übersehen? Der Mann konnte zunächst nicht vernommen werden.

Der Ford-Fahrer, der in der Neckarstraße vor dem Streifenwagen flüchtet, hat keine Lust, sich von der Polizei befragen lassen. Mit Vollgas rast er durch die Neckarstraße, vorbei an der nächsten roten Ampel, dann nach rechts zur Cannstatter Straße und durch den Schwanenplatztunnel auf die B 10 Richtung Esslingen. An der Ausfahrt Gaisburger Brücke passiert der Ford Fiesta die nächste rote Ampel.

Die Verkehrsmoral sinkt, heißt es

„Die Tendenz, das Rotlicht wahrzunehmen, nimmt deutlich ab, und ich sehe das in einer gesunkenen Verkehrsmoral“, sagt Joachim Elser, Chef der städtischen Verkehrsüberwacher. Bußgeld hin, Punkte her: Elser sieht regelmäßig Autofahrer mit Handy am Ohr. „Man hat das Gefühl, dass Verkehrsregeln nur als Empfehlung wahrgenommen werden“, sagt er. Überhaupt die Wahrnehmung: Seit letzter Woche ermittelt die Polizei nach einem Unfall am Kräherwald im Norden. Ein 63-jähriger Radler und eine 46-jährige Autofahrerin kollidierten auf einer Fußgängerfurt. Beide wollen Grün gehabt haben. Doch wer hatte Rot?

14 Verletzte gab es Ende Mai am Arnulf-Klett-Platz beim Hauptbahnhof, als ein Renault und ein Bus der Linie 42 kollidierten. Dabei hatte nicht etwa der Autofahrer aus Sachsen-Anhalt Rot übersehen – sondern der 34-jährige Busfahrer. Die Kreuzung ist für die Polizei ein Brennpunkt für Rotsünder, ebenso der Pragsattel.

Es gibt nur vier Rotlichtblitzer in der Stadt

Eigentlich müsste man die Stadt mit stationären Überwachungsanlagen zupflastern – „aber das geht ja nicht“, sagt Elser. Tatsächlich hat die Stadt nur vier Rotblitzer in der Hauptstätter Straße in der Innenstadt, der Talstraße in Gaisburg, Waiblinger Straße in Bad Cannstatt und Neckarstraße in Stuttgart-Ost. Der Trend dort ist alarmierend: „Bei zwei Dritteln der geblitzten Sünder war schon länger als eine Sekunde Rot“, sagt Elser. Von wegen, es war noch Gelb. Und das bei knapp 3000 Autofahrern.

Die Polizei versucht mit mobiler Überwachung die Löcher zu stopfen. Letzten Freitag geht das in der Cannstatter Straße daneben. Eine schleudernde Opel-Fahrerin prallt gegen den Einsatzwagen. Dafür wird der flüchtige Ford-Fahrer von der Neckarstraße gestoppt. In der Ulmer Straße in Wangen nimmt die Polizei einen 18-Jährigen fest. Wie soll er die Verkehrsregeln kennen? Er hat ja nicht mal einen Führerschein!