Verkehrssicherheit in Stuttgart Auch Fußgänger kritisieren Rad-Kampagne der Stadt

Radfahrende werden zur Rücksichtnahme aufgefordert. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

„Rad nimmt Rücksicht“ heißt die gut gemeinte Verkehrssicherheitskampagne. Doch sie kommt nicht überall gut an. Nicht nur Radfahrende stört die Botschaft.

Lokales: Christine Bilger (ceb)

Die Farbgebung fällt ins Auge, denn bei Blau-Gelb denkt man dieser Tage natürlich sofort an den Ukraine-Konflikt. Auf den zweiten Blick stutzen manche, denn darum geht es überhaupt nicht – sondern darum: „Rad nimmt Rücksicht“ heißt die Kampagne. Das Plakat ist Teil der Verkehrssicherheitskampagne, mit der die Stadt auf Probleme im Miteinander auf Stuttgarts Straßen aufmerksam macht. Im vergangenen Jahr war zum Schutz der Radelnden das Thema Mindestabstand von 1,50 Meter beim Überholen aufgegriffen worden.

 

Reaktionen auf die Kampagne Die Kampagne kommt an – gut bei all jenen, die Radfahrende grundsätzlich als rücksichtslose Rüpel verdammen, und schlecht bei all jenen, die sich rücksichtsvoll auf dem Rad bewegen, aber immer wieder von der ersten Gruppe mit verurteilt werden, allein aufgrund der Wahl ihres Verkehrsmittels. Das zeigen nicht nur die Reaktionen im Internet. Ein paar kurze Gespräche am Rand der Hauptradroute an der Tübinger Straße geben einen Einblick. Eine 22-jährige Studentin sagt: „Ich halte an jedem Zebrastreifen, klingele, um Fußgänger nicht zu erschrecken, und rase nicht zu eng an ihnen vorbei. Dennoch werde ich täglich angefeindet. Da hilft so eine Kampagne wenig.“ Der 56-jährige Berufspendler und Anzugträger Axel Wagner (Name geändert) berichtet Ähnliches. „Viele wissen oft gar nicht, dass ein Weg für den Radverkehr freigegeben ist, und werden aggressiv, nur weil man dort fährt“, sagt er. Ein Fußgänger schaltet sich ins Gespräch ein: Viel zu oft würden Radfahrende zu knapp an ihm vorbeiziehen und auch Gehwege benutzen.

Stadt registriert viele Beschwerden Laut der Stadt häufen sich die Beschwerden der Fußgängerinnen und Fußgänger über den Radverkehr, sie würden sogar zunehmen. „Tagtäglich“ würden diese auf allen Kanälen eingehen, sagt der Pressesprecher Oliver Hillinger. Messbar ist, was das Team Radverkehr der Verkehrsbehörde, eingerichtet am 15. November 2020, seit es besteht, bekommen hat: 156 schriftliche Beschwerden „zum Gesamtthemenkomplex Radverkehr, 64 davon betrafen das Verhalten von Radfahrenden“, teilt Hillinger mit. Weiter, nicht quantifizierte Beschwerden kämen auf diversen anderen Wegen.

Problem: gemeinsame Wegeführung Bei der Vorstellung der Kampagne hat der Leiter der Verkehrspolizei, Michael Saur, gesagt, Radfahrende würden häufig Fußgängerinnen und Fußgänger „ohne böse Absicht“ gefährden oder erschrecken. Etwa wenn sie im Schlossgarten auf den gemeinsam zu nutzenden Streckenabschnitten zu dicht und zu nah an den zu Fuß Gehenden vorbeifahren.

Kritik an der Kampagne Dieses Problem benennt auch Peter Pipiorke von der Naturfreunde Radgruppe Stuttgart. Die Gruppe begrüße grundsätzlich die Kampagne, ein besseres Miteinander sei immer gut. Jedoch fehle auf dem Plakat der Autoverkehr: „Geht von dem etwa keine Gefahr aus?“, fragt er. Die Radgruppe fordert eine Umverteilung: Fußwege nur für Fußgänger. Für Radfahrer sollen geschützte Radwege entstehen, die den Autofahrspuren weggenommen werden.

Die Fahrrad-Bloggerin und Grünen-Stadträtin Christine Lehmann hat auf ihrem Blog „Radfahren in Stuttgart“ der Kampagne einen Beitrag gewidmet. Für sie offenbart sie eine Schwäche der Verkehrswegeführung in der Landeshauptstadt: Die Infrastruktur zwinge Radfahrende viel zu häufig, beispielsweise auf vielen Kilometern der Hauptradroute 1, unter Fußgängerinnen und Fußgänger, stellt sie fest. Außerdem generalisiere die Kampagne, statt zu spezifizieren: Lehmann hat den Eindruck, es habe sich kein konkreter Regelverstoß gefunden, der benannt werden konnte – anders als der zu geringe Überholabstand von Autos. Das eigene Fahrverhalten zu überdenken und rücksichtsvoll und freundlich gegenüber Fußgängerinnen und Fußgängern zu sein, rät sie grundsätzlich allen Radfahrenden.

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Kritik auch von Fußgängern Auch von Fußgängerinnen und Fußgängern bekommen die Radfahrenden Schützenhilfe. Man sei bei der Präsentation der Kampagne im März „etwas erschrocken gewesen, wie einseitig sie wird“, sagt Friederike Votteler von dem Interessenverband. Die Menschen, die per pedes in der Stadt unterwegs sind, benennen ebenfalls das Zusammenlegen von Fuß- und Radverkehr auf Wegen wie im Schlossgarten als eines der zentralen Probleme. Das betont auch Thijs Lucas von Zweirat Stuttgart: „Es ist natürlich unangenehm, wenn ein Pendler mit Tempo 30 durch den Park radelt und an Fußgängern vorbeizieht“, sagt Lucas. Er fordert ebenfalls eine separate Wegführung. Er hat eine ähnliche Reaktion auf die Kampagne wie Lehmann: „Man hat den Eindruck, die Radfahrer seien jetzt dran gewesen, nach der Rücksichtskampagne für Autofahrer im vergangenen Jahr“, sagt Thijs Lucas. „Sind dann die Fußgänger dran?“, fragt er.

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Zusammenarbeit angekündigt Radfahrende und Fußgänger wollen gemeinsam die Kritik bei der Verwaltung anbringen, die sie zu der Kampagne vernommen haben. Das soll in ein paar Wochen geschehen, wenn sie als sachkundige Bürgerinnen und Bürger für den Radverkehr im Unterausschuss Mobilität im Rathaus ihre Kritik zu Wort kommen, kündigt Friederike Votteler an.

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