Wenn nicht jetzt, wann dann? Die Stadt schwimmt im Geld und hat ein Luftproblem; das ist der perfekte Zeitpunkt für eine wirkliche Verkehrswende, meint Lokalchef Holger Gayer.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart - Die Nachricht der Woche platzt in den Sommer wie eine aufgerissene Tüte Spekulatius. Wir bekommen eine neue Weihnachtsbeleuchtung. Ja, ehrlich: Während wir uns auf den heißesten Fest- und Konzertmarathon vorbereiten, den Stuttgart je gesehen hat, verkünden die antizyklisch agierenden Strategen von Stuttgart Marketing, City-Initiative und in.Stuttgart, dass im Winter Lichtinstallationen mit Stuttgarter Spezialitäten auf den Schlossplatz gezaubert werden. Erstrahlen sollen unter anderem der Fernsehturm, der Porsche 911, der Mercedes 300 SL sowie die Neu-Bürger Anastasia und Aladdin. Damit ist klar, dass mit den beiden Migranten aus dem Musicalgenre die Geschichte der Stuttgarter Märchen neu geschrieben werden muss. Das Hutzelmännlein bekommt in Anastasia und Aladdin legitime Geschwister. Eine Sensation! Und längst nicht das einzige sagenhafte Kapitel, das dieser Tage neu formuliert wird.

 

Am Dienstag haben Oberbürgermeister Fritz Kuhn und sein Finanzattaché Michael Föll mitgeteilt, dass die Stadt im vergangenen Jahr einen Überschuss von 383 Millionen Euro erzielt hat, was in Worten ausgedrückt nichts anderes ist als das beste Ergebnis aller Zeiten. Bis Ende 2018 soll Stuttgart schuldenfrei sein, zum ersten Mal seit 70 Jahren. In der Rolle der wundersamen Geldvermehrer geben sich Midas Föll und Dagobert Kuhn allerdings bescheiden. Sie wollen das Geld in Rücklagen fließen lassen, nach dem schwäbischen Motto: Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.

Wird die Stadt wegen Reichtums geschlossen?

Dass die Stadt aber bald wegen Reichtums geschlossen werden muss – zumindest für die Fahrer von älteren Dieselkutschen –, ist eine bittere Ironie der Geschichte. Und doch nichts anderes als die Konsequenz aus der jahrelangen Untätigkeit vieler Stadt-, Landes- und Bundespolitiker in Tateinheit mit Automanagern, die Regeln so sehr gebeugt haben, bis sie gebrochen sind. Nach den Gerichtsurteilen aus allen Instanzen können die Regierenden nun nicht mehr anders: Sie müssen die Notbremse für jene Vehikel ziehen, die die Luft im Kessel am meisten belasten – und es wäre schön, wenn sie die vermaledeite Situation, in die sie ihre Bürgerinnen und Bürger manövriert haben, endlich als Chance nutzten, einen tief greifenden Sinneswandel bei der Mobilität zu vollziehen.

Fritz Kuhn scheint das begriffen zu haben. Obwohl man den OB für andere Versäumnisse durchaus tadeln kann, weist sein Konzept zur Vereinfachung der VVS-Zonen in die richtige Richtung. Konsequent wäre es aber auch, die Evolution im Nahverkehr weiterzutreiben. Der bisher spannendste Vorschlag in der Sache ist das 365-Euro-Ticket für alle Bürger: Wer sich in der Stadt mit Bus, Bahn oder Auto bewegen will, zahlt für jeden Tag im Jahr einen Euro. Für die Autofahrer bedeutet das zwar eine Zwangsabgabe – allerdings eine, für die sie auch etwas bekommen: ein Jahresticket für Busse und Bahnen nämlich. So mancher Automobilist dürfte sich ob dieses Anreizes überlegen, ob er nicht doch lieber öffentlich fährt. Und für die heutigen Nutzer von Stadt- und S-Bahnen würden die Fahrten deutlich günstiger werden.

Die Stadt muss attraktiv sein – auch beim Verkehr

Der Haken an der Sache: Das Unterfangen würde die öffentliche Hand viel Geld kosten, weil der Zuschussbedarf bei VVS und SSB deutlich steigen würde. Doch wer wenn nicht Stuttgart kann sich eine Verkehrswende leisten, um die Stadt attraktiv zu halten? Schließlich wollen die Menschen auch weiterhin zum Lichterfest, zum Fischmarkt, zu den großen Konzerten der Toten Hosen, der Fantastischen Vier und Helene Fischer kommen. Und im Winter vielleicht sogar zur neuen Weihnachtsbeleuchtung mit den Stuttgarter Musicalmärchenfiguren Anastasia und Aladdin.