Der Arbeitsmarkt in Deutschland steht glänzend da. 44 Millionen Erwerbstätige sind ein neuer Rekord, allein 2016 kamen mehr als 800 000 neue Stellen dazu. Doch die Erfolgsbilanz hat Schattenseiten, zeigt Matthias Schiermeyer auf.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Angela Merkel heftet sich den Orden höchstpersönlich an die Brust: Seitdem sie Kanzlerin sei, habe sich die Arbeitslosigkeit halbiert, lobt sie sich. 44 Millionen Erwerbstätige gibt es in Deutschland – so viele wie nie zuvor. Und nun peilt Merkel ein Ziel an, das über Jahrzehnte völlig unerreichbar schien: die Vollbeschäftigung. Bis 2025 soll die Arbeitslosigkeit von derzeit 5,6 Prozent unter drei Prozent sinken. Diese neue Wahlkampfschlager hat einen Haken: Ob das ambitionierte Versprechen eingehalten wird, lässt sich erst in acht Jahren überprüfen.

 

Die Kanzlerin als Antreiberin des Arbeitsmarkts? So viel Chuzpe bringt nicht jeder Politiker auf. Dagegen wirkt SPD-Herausforderer Martin Schulz geradezu kleinlaut, weil er Merkels Zahlen zunächst akzeptieren muss – um im nächsten Satz darauf hinzuweisen, dass es nicht allen Menschen damit besser ergehe. Denn zur Wahrheit gehört, dass der solide Arbeitsmarkt auf einem hohen Sockel von atypischer Beschäftigung fußt, wie das Statistische Bundesamt jetzt bestätigt hat.

Die Unsicherheit vieler Menschen bleibt

Gut jeder Fünfte hat kein Normalarbeitsverhältnis. Die Zahl der Teilzeitstellen, Leiharbeiter, Werkverträgler und Minijobs ist auf den höchsten Stand seit 13 Jahren gestiegen. Weil aber auch die Vollzeitarbeit zugenommen hat, bleibt der Anteil der atypisch Beschäftigten an der Gesamtbeschäftigung konstant. Rentner oder Studenten zum Beispiel sind auf solche geringfügigen Jobs angewiesen. Zugleich wird der Erfolg am Arbeitsmarkt durch die Unsicherheit vieler Menschen erkauft.

Ohne Scheu benennt Merkel die Einführung des Mindestlohns und Leitplanken für die Leiharbeit als Errungenschaften ihrer Regierung. Dabei war es die SPD, die die CDU erst dahin treiben musste. Besorgniserregend ist der Anstieg bei den Zeitarbeitnehmern, deren Zahl die Millionengrenze überschritten hat. Ohne sie könnte die Industrie den Exportboom womöglich gar nicht bewältigen. Doch Leiharbeiter sind trotz der gesetzlichen und tariflichen Fortschritte noch immer massiv benachteiligt. Zwar müssen sie nun nach neun Monaten wie Stammbeschäftigte bezahlt werden, zudem gilt eine Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten. Nun aber droht eine vorzeitige Kündigung. Zudem dürfen die Tarifparteien davon abweichen, weshalb die IG Metall sogar einer Überlassung von bis zu 48 Monaten zugestimmt hat.

Leiharbeiter sind öfter krank als Festangestellte

Organisierte Lohndrückerei oder notwendige Flexibilität der Wirtschaft? Schwarz-Weiß-Antworten verbieten sich. Zeitarbeit eignet sich nicht für eine generelle Skandalisierung, weil sie eine ökonomische Berechtigung hat und gerade gering qualifizierten Kräften Chancen eröffnet. Zudem ist der Anteil der Zeitarbeit am Gesamtarbeitsmarkt gering. Andererseits erscheint der Umgang damit oft unerträglich – speziell in Verbindung mit Werkverträgen. Auch in bekannten Stuttgarter Unternehmen zum Beispiel erzielt ein Leiharbeiter in der Logistik auf diese Weise weniger als die Hälfte des Einkommens, das ein Festangestellter an seiner Stelle erhalten würde. Allgemein verdienen Zeitarbeitskräfte nicht einmal 60 Prozent des Durchschnittslohns. Hinzu kommt die Gefahr, von heute auf morgen arbeitslos zu werden.

Jüngst hat eine Krankenkasse festgestellt, dass Leiharbeiter deutlich öfter und länger krank sind. Dies hat viel mit körperlicher Arbeit zu tun, aber auch mit dem Einkommensschwund, Angst um den Job, ständigen Ortswechseln und schlechteren Berufsperspektiven. Folglich sollte es der Politik nicht nur auf mögliche Vollbeschäftigung ankommen, sondern auch auf die Qualität. Gerade mit der günstigen Bilanz als Startguthaben darf die nächste Bundesregierung keinesfalls nachlassen, prekäre Arbeit einzudämmen – selbst wenn dann Parteien am Ruder sein sollten, die diese Klientel weniger im Blick haben als die noch amtierenden Koalitionspartner.