Die Sportart hofft am Rande der Leichtathletik-WM auf mehr Aufmerksamkeit. Doch neben dem Überstar fehlen ihr die ganz großen Helden.  

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Daegu - Helmut Digel hat dieser Tage einige E-Mails gekommen. Es war keine Fanpost. Und alles nur, weil sich der Tübinger erdreistete, Usain Bolt nach dessen Fehlstart-Fauxpas über die 100 Meter ein wenig zu kritisieren. Wegen Bolts überheblichen Gesten im Vorfeld des Rennens - aber vor allem, weil Digel nicht willens ist, nur wegen dieses Burschen grundsätzlich über die Regeln nachzudenken. Man solle doch froh sein, so der Tenor der Schreiben, dass es diesen Wunderknaben gebe - und still sein. Helmut Digel, DLV-Ehrenpräsident und Mitglied des IAAF-Councils, hat den Übersportler gerügt. Wie konnte er nur. Welch' Blasphemie!

 

Die Leichathletik sitzt in der Bolt-Falle. Im Grunde hat sie es sich dort aber auch ganz gemütlich eingerichtet. Ein Sportler, der größer ist als sein Sport, alle profitieren von diesem Formel-1-Boliden auf zwei Beinen. Sport verkauft sich über Helden, über Gesichter. Die Leichtathletik verkauft sich über Usain Bolt. Er ist ein Geschenk. Und natürlich sind sie alle froh, ihn zu haben.

Es fehlen die Typen

Und doch ist es zu wenig, sich nur einem Athleten auszuliefern. Digel sagt zu Recht, dass der Reiz der Leichtathletik vor allem ihre Vielfalt sei. Doch die olympische Kernsportart hat an Massentauglichkeit eingebüßt. Das zeigte sich nicht zuletzt darin, dass ARD und ZDF die WM-Übertragungsrechte zunächst zu teuer waren. Dafür gab es viele Gründe. Einer ist, dass diesem früheren Premiumprodukt im Showgeschäft Sport inzwischen Typen fehlen, die auch Menschen jenseits des Expertentums ins Stadion oder vor den Fernseher locken.

Jelena Issinbajewa ist noch so eine. Man kennt sie, und sie muss auch in Daegu immer wieder herhalten, wenn es um Werbung für die WM geht. Sie ist das Covergirl der Weltleichtathletik. Die Stabhochspringerin ist Weltrekordlerin, extrovertiert, attraktiv, clever. In Sergej-Bubka-Manier hat sie den Weltrekord Zentimeter um Zentimeter gesteigert. Doch die Russin hat erst Motivationsprobleme gehabt, und nun, da sie zurück ist, ist sie von alter Klasse noch weit entfernt. In Daegu wurde sie Sechste. Noch galt das Interesse trotzdem ihr. Aber auch ihre jetzt noch spannende Geschichte vom Kampf um den Anschluss ist endlich.

Publikum muss sich an Namen erst gewöhnen

Ein Problem der Leichtathletik bei der Produktion von Stars ist, dass die Zeit großer Dominanzen in vielen Disziplinen vermutlich vorbei ist. Ihre Halbwertszeit ist kürzer. Das spricht für die Leistungsdichte, es macht die Vermarktung aber schwer. Das Publikum muss sich an Namen und Gesichter erst gewöhnen, nur so werden sie zu einer Marke. Sergej Bubka etwa hat seine Disziplin über Jahre beherrscht, genau wie Carl Lewis, Marion Jones oder auch Michael Johnson. Selbst wenn die Leistung aber über Jahre stimmt, muss das noch nichts bedeuten. Werfer wie Robert Harting sind global schwer zu verkaufen, und Osteuropäer werden bisweilen kritisch beäugt.

Außerdem leidet die Leichtathletik an dem statistischen Sondermüll des Kalten Sportkrieges. Nichts ist reizvoller für das Massenpublikum als Rekorde. Siehe Issinbajewa, die dies in einer vergleichsweise jungen und damit nicht ausgereizten Disziplin demonstriert hat. Doch durch den Dopingrausch der 80er Jahre sind viele Rekorde wohl für alle Ewigkeit in die Ergebnislisten zementiert.

Die "Russische Barbie" als Hoffnungsträger

Seit der Rekordfetischismus durch verstärkte Kontrollen ein wenig beruhigt wurde, sinkt die Leistung flächendeckend. Werden die Bestleistungen doch ab und zu überboten (siehe die 100 Meter), haben viele Zweifel. Die Funktionäre propagieren deshalb den Wettkampf an sich als neues Ideal, das Duell - doch ob das neue Fans zieht?

Darja Klishina ist eine Hoffnungsträgerin, weil sie alle Voraussetzungen erfüllt, die das Medienzeitalter von möglichen Heroen erwartet. Sie ist sportlich ein Versprechen, auch wenn die Weitspringerin in Daegu nicht das zeigen konnte, was sie wirklich kann. Sie gilt als Ausnahmetalent, im vergangenen Jahr sprang sie als 19-Jährige 7,03 Meter - nur Heike Drechsler war in diesem Alter schon besser. Dieses Jahr hat sie ihre Bestweite auf 7,05 Meter gesteigert. Ihre Trainer trauen ihr sogar zu, den Weltrekord von 7,52 Meter aus uralten Anabolikazeiten angreifen zu können. Und die 20-Jährige sieht blendend aus - was das Paket erst richtig spannend macht. "Russische Barbie" nennt sie der britische Boulevard bereits liebevoll. Klishina könnte eine Goldmine sein, die Claims sind längst abgesteckt.

Eine Art Anna Kournikowa der Leichtathletik

Der Marketinggigant IMG hat Klishina in diesem Jahr unter Vertrag genommen und arbeitet daran, aus ihr eine globale Marke zu machen. Red Bull und Nike haben bereits langfristige Verträge mit ihr abgeschlossen. Sie könnte eine Art Anna Kournikowa der Leichathletik werden - das ist der Traum. Entsprechende Fotos gibt es bereits, in der ihre optischen Reize betont werden. Sie sagt aber: "Ich würde nie auch nur eine einzige Trainingseinheit für ein Fotoshooting verpassen. Leichtathletik hat Priorität. Aber ich möchte meinen Sport populärer machen, doch leider ist das unmöglich, wenn du nur springst."

Helmut Digel, im Council des Weltverbandes für das Marketing zuständig, macht sich so seine Gedanken, aber keine Sorgen. Auch nicht vor dem Tag, an dem Usain Bolt nicht mehr aktiv ist. Stars kommen und gehen, auch die ganz Großen. Als Carl Lewis aufhörte, dachten alle, er seit der Letzte seiner Art. Und die Leichtathletik am Ende. "Es sind immer neue nachgekommen", sagt Digel. "All das ist vergänglich. Man sieht das ja auch an den Begriffen: Jahrhundertsportler - wie viele hatten wir da schon? Dutzende, und alle paar Jahre kommt ein neuer dazu."