Exklusiv Interne Dokumente aus dem Kanzleramt zeigen, wie Angela Merkel 2010 über Stuttgart 21 informiert wurde. Früher als der Bundestag erfuhr sie, dass die Wirtschaftlichkeit der Neubaustrecke auf der Kippe stand.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart / Berlin - Die Transparenz nach Art des Kanzleramtes wirkte reichlich geheimniskrämerisch. Fast durchweg geschwärzt waren die Dokumente, die zwei Pensionäre aus Baden-Württemberg per Antrag auf Akteneinsicht aus Berlin erhielten. Nach dem Umweltinformationsgesetz (UIG) hatten sie Unterlagen rund um die Baumfällungen im Herbst 2010 im Stuttgarter Schlossgarten verlangt. Tatsächlich bekamen sie eine Reihe von Vermerken, die zeigen, wie intensiv Angela Merkel von Mitte August an über Stuttgart 21 informiert wurde. Lesbar blieben indes nur wenige Sätze, in denen es um die zu fällenden Bäume ging. Bei allem anderen, wurden die Antragsteller belehrt, handele es sich nicht um Umweltinformationen. Sie könnten allerdings nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) Auskunft begehren. Das hielten die beiden Experten für Behördentransparenz zwar nicht für den richtigen Weg. Sie zeigten sich aber „nicht abgeneigt, die Informationen auch aufgrund der falschen gesetzlichen Grundlage IFG entgegen zu nehmen“. Inzwischen liegen die (überwiegend gleichen) Unterlagen erneut vor – und siehe da: diesmal sind sie nur noch zu kleinen Teilen geschwärzt. Es handele sich um jene Passagen, die in den „Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung“ fallen, erläuterte das Kanzleramt. Inhaltlich sind die meist direkt an „Frau Bundeskanzlerin“ gerichteten Vermerke vor allem unter zwei Aspekten interessant: sie dokumentieren die Zweifel, die damals an der Wirtschaftlichkeit der Neubaustrecke Stuttgart-Ulm herrschten, und sie erwähnen mehrfach ein später kaum noch verwendetes Argument für das Bahnprojekt.

 

„Dynamisierung wie bei Hamburg-Berlin“

Die Befürworter von Stuttgart 21, erfuhr Merkel Mitte August, betonten „unter anderem die immobilienwirtschaftlichen sowie die städtebaulichen Chancen sowie die verkürzten Reisezeiten“. Was die „Verbesserung der Verkehrsverhältnisse“ betrifft, wird vor allem auf die Transeuropäische Magistrale Paris-Stuttgart-Bratislava verwiesen, an der ein „großes Bundesinteresse“ bestehe, und auf den „Reisezeitgewinn“ von 26 Minuten zwischen Stuttgart und Ulm – beides Argumente, die in der Diskussion ständig genutzt wurden.

In drei Papieren aber wird ein Vorteil von Stuttgart 21 herausgestrichen, von dem seither wenig zu hören war: zwischen den Landeshauptstädten München und Stuttgart werde es eine „erhebliche Dynamisierung des Austauschs“ geben, ähnlich wie durch die ICE-Verbindung zwischen Hamburg und Berlin. Dank des Tiefbahnhofs und der Neubaustrecke werde sich die Fahrzeit „von derzeit 2,20 Stunden auf 1,38 Stunden“ verkürzen; sie wäre dann „nur unwesentlich länger“ als zwischen der Bundeshauptstadt und der Hansestadt. Bei dieser und anderen Hochgeschwindigkeitsstrecken habe sich ein „Nachfrageboom“ und eine Dynamik eingestellt, „die alle Prognosen bei weitem übertreffen“. Dank Stuttgart 21 winkten ebenfalls „eine positive wirtschaftliche Eigendynamik und Impulse für den gesamten süddeutschen Wirtschaftsraum“. „Diese positiven Aspekte wurden allerdings bisher unzureichend vermittelt”, heißt es selbstkritisch. Tatsächlich wurden Vergleiche zu Hamburg und Berlin vor allem von Kritikern gezogen – mit Blick auf die Problemprojekte Elbphilharmonie und Flughafen BER.

Wirtschaftlichkeit der Neubaustrecke auf der Kippe

Im Kanzleramt diente der Verweis auf die „Paradestrecken“ vor allem dazu, um gegenüber Merkel Zweifel an der Wirtschaftlichkeit der Neubaustrecke auszuräumen. Damals war ein zentraler Indikator, das Nutzen-Kosten-Verhältnis (NKV), gerade neu ermittelt worden: Er sank infolge von Kostensteigerungen von 1,2 auf 1,05 – und damit bedrohlich nahe an 1,0, die Grenze der Wirtschaftlichkeit. Dies dürfte von S-21-Kritikern „als Bestätigung ihrer Position“ gewertet und gegen die CDU-geführte Landesregierung eingesetzt werden, hieß es in einer Vorlage für die Kanzlerin vom 10. September 2010. „Als Problem dürfte sich erweisen, dass bereits eine geringe weitere Kostensteigerung, die bei einem Projekt dieser Größenordnung nie ausgeschlossen werden kann, zu einem NKV unter 1 führt und damit das Projekt unwirtschaftlich macht.“ Dies könnte auch die Haushälter des Bundestages und den Rechnungshof auf den Plan rufen, warnen die Beamten. Damals waren die Abgeordneten jedoch noch ahnungslos: Die Neubewertung sei „noch nicht öffentlich“ und werde erst im Oktober dem Bundestag übermittelt, hieß es in dem Vermerk. Öffentlich wurden die heiklen Zahlen erst im November 2010 durch einen StZ-Bericht. Etwaige Bedenken Merkels konnten aber offenbar entkräftet werden – unter anderem mit dem Hinweis, dass auch andere Strecken einen negativen Nutzen-Kosten-Faktor aufgewiesen hätten, wenn Mehrkosten vorab berücksichtigt worden wären. Fünf Tage später bekannte sich die Kanzlerin in einer Regierungserklärung überraschend klar zu Stuttgart 21. Ihre handschriftlichen Notizen auf dem Vermerk, die die Meinungsbildung erhellen könnten, blieben freilich geschwärzt. Für interne Beratungen, so das Kanzleramt, müsse es einen „geschützten Raum“ geben.

Auch zwei andere interessante Passagen sind weiterhin nicht lesbar: die „Gesprächsführungsvorschläge“ für ein Treffen mit der CDU-Landesgruppe im Bundestag am 1. September und mit Bahnchef Rüdiger Grube am 24. September, wenige Tage vor dem Polizeieinsatz im Schlossgarten. Begründung: künftige Verhandlungspartner könnten dadurch einen „Informationsvorsprung” erhalten, „der die Gesprächsposition der Bundeskanzlerin schwächen könnte“. Per neuerlichem Widerspruch wollen die Pensionäre nun auch hier versuchen, den Schleier zu lüften.