Im Oktober 2004 verschwindet der 15-jährige Daniel: Noch hofft seine Mutter, dass sie ihn eines Tages wiedersieht.

Region: Verena Mayer (ena)

Ulm - Daniel ist immer da. Er lacht von den Bildern an den Wänden. Er besucht Karola Eberhardt nachts in ihren Träumen. Er ist es, an den sie tagsüber denkt, und der sie beim Frühstück und beim Abendessen ansieht. „Gott schütze dich, Daniel“, hat seine Mutter auf den Fotorahmen geschrieben, der auf dem Tisch steht. Für Daniel hat sich Karola Eberhardt an die Fersen von Drückerkolonnen geheftet, sie hat sich mit der Fremdenlegion in Frankreich auseinandergesetzt, sie ist zum Zweiten Deutschen Fernsehen und zur „Bild“-Zeitung gegangen. „Ich wäre so froh, wenn ich das alles nicht mehr bräuchte“, sagt die Mutter. Doch sie hofft, auf diesen Wegen ihren Sohn wiederzufinden. Seit mehr als sieben Jahren ist sie auf der Suche. Inzwischen kann sie sich schon fast nicht mehr vorstellen, wie es ist, wenn er wirklich wieder da wäre. Das Bild werde immer schwächer, sagt sie.

 

Am 25. Oktober 2004 verschwindet Daniel, damals ist er 15. Den Unterricht in der Anna-Essinger-Realschule in Ulm besucht er an diesem Tag bis zur letzten Stunde. Dann will er wahrscheinlich mit dem Zug zum Vater, der im nahe gelegenen Elchingen-Thalfingen lebt. Daniels ehemaliger Basketballtrainer sieht, wie der Junge um 17.29 Uhr in die Regionalbahn in Richtung Heidenheim steigt. Auch während der Fahrt wird Daniel gesehen. Wo er aussteigt, beobachtet allerdings niemand. Fest steht: der 15-Jährige kommt beim Vater nicht an.

Dass Daniel verschwunden ist, merken die Eltern erst später. Der Vater denkt, der Sohn sei bei der Mutter; die Mutter wähnt ihn beim Exmann. Als sich diese Annahme als Missverständnis entpuppt, alarmiert Karola Eberhardt die Polizei. Die Beamten versuchen sie zu beruhigen. Viele Jugendliche verschwänden und tauchten bald darauf wieder auf, sagen sie. Wahrscheinlich wolle Daniel einfach die Nacht zum Tag machen. Aber Daniel taucht nicht wieder auf. Auch am nächsten Tag in der Schule nicht. „Dann“, sagt Karola Eberhardt, „ging der Horror los.“ Die Mutter hat einen Nervenzusammenbruch, fast drei Monate kann sie nicht arbeiten. Schlafen geht, wenn überhaupt, nur mit sehr starken Medikamenten. Sie beginnt mehrmals eine Therapie, bricht aber immer wieder ab. Sie glaubt nicht, dass ihr Psychologie hilft. Karola Eberhardt glaubt, dass ihr nur ein Lebenszeichen von Daniel hilft. „Ein Lebenszeichen ist Frieden.“

Zu jedem Fest kauft sie ihrem Sohn ein Geschenk

An der Wand in Daniels Zimmer hängen Poster von schnellen Autos, auf seinem Bett sitzt ein Teddybär, auf seinem Schreibtisch steht ein Computer. Daniel hat dieses Zimmer noch nie betreten, er kennt es gar nicht. Seine Mutter ist erst nach seinem Verschwinden in die Wohnung gezogen, sie hat extra eine mit drei Zimmern gemietet. Damit Daniel Platz hat, wenn er wiederkommt. Dann kann er auch all die Briefe lesen, die ihm seine Mutter geschrieben hat, seit er fort ist. Und er kann die Geschenke öffnen, die sie ihm seither zu jedem Fest gekauft hat. Sie stehen verpackt in einer Vitrine. „Da kann man jetzt vielleicht meinen, dass das verrückt ist“, sagt Karola Eberhardt mit wackeliger Stimme. Aber sie könne doch nicht so tun, als gäbe es Daniel nicht mehr. „Das ist normales Traumaverhalten“, sagt die Polizei. Für eine Mutter gebe es nichts Schlimmeres, als ein Kind zu verlieren und keine Spur von ihm zu haben, sagt Wolfgang Jürgens von der Polizeidirektion Ulm. Im November ist über den Fall in einer Spezialausgabe von „Aktenzeichen XY . . . ungelöst“ berichtet worden. Die Polizisten hatten gehofft, dass ein Zuschauer den schwarzen Rucksack wiedererkennt, den Daniel am 25. Oktober 2004 bei sich hatte, und sie weiterbringt.

Kurz nach seinem Verschwinden war Daniel schon einmal über diese Sendung gesucht worden. 15 Anrufer meldeten sich damals. Zwei von ihnen wollten den Jungen im Ausland gesehen haben, einer in einem Zug bei Buchloe, ein anderer in einer Drückerkolonne bei Augsburg. Die Ermittler in Ulm haben alle Hinweise geprüft, eine heiße Spur fanden sie nicht.

Sie glauben nicht mehr, dass der fast 1,80 Meter große, durchtrainierte Daniel das Opfer eines Verbrechers geworden ist. Sie haben mit Hunden und Hubschraubern Waldstücke durchforstet, in denen sich der Junge manchmal aufgehalten hat. Ohne Ergebnis. Außerdem gibt es eine gesicherte DNA von Daniel. Bisher wurde sie noch bei keinem unbekannten Toten entdeckt. Karola Eberhardt weiß, dass die Polizisten einen Selbstmord ihres Sohnes nicht ausschließen. In seinem Schließfach in der Schule haben die Beamten seinen Geldbeutel samt Papieren gefunden, seine Brille und sein Handy. Nichts, was einer zurücklässt, der von zu Hause ausreißen will. Doch die Mutter kann nicht glauben, dass ihr Daniel sich das Leben genommen hat. Am Ende seines letzten Schultages hatte er sich doch mit dem Techniklehrer über den kurz zuvor durchgenommenen Stoff unterhalten. „Jemand, der so aufgeschlossen ist, will doch nicht abschließen“, sagt Karola Eberhardt, die wie die Polizei weiß, dass ihr Sohn zunehmend verschlossen war, unter der Trennung seiner Eltern litt und wenig Freunde hatte.

Recherchen in fremden Welten

Nach der jüngsten XY-Sendung meldet sich eine Frau aus Münster. Sie erinnerte sich, dass sie während eines Urlaubs in Südfrankreich einen jungen Mann kennengelernt hat, der Daniel hätte sein können. Seinen Namen hatte der Unbekannte damals nicht genannt. Aber er erzählte, dass er aus Süddeutschland stamme, dass er von zu Hause abgehauen sei, momentan auf einem Bauernhof jobbe und nach der Ernte auf den Jakobsweg wolle. Das war im Sommer 2007. Er habe gewirkt, als ob er sich durchbeißen würde, erzählte die Frau aus Münster und gab der verzweifelten Frau aus Ulm damit einen neuen Strohhalm, an den sie sich klammern konnte. Karola Eberhardt fuhr nach Südfrankreich, klebte selbst gebastelte Fahndungsposter an Wände und Masten, verteilte Flyer, forschte auf Bahnhöfen nach, bei Streetworkern und Junkies und graste Fast-Food-Restaurants und Kneipen ab.

Sie war auch in Augsburg, wo Daniel angeblich als Drücker gesehen wurde. Oder in Straßburg: möglicherweise, mutmaßt die Mutter, hat sich Daniel dort bei der französischen Fremdenlegion beworben. Er interessierte sich für eine militärische Laufbahn, und die Truppe hat den Ruf, jeden zu nehmen, ohne lästige Fragen zu stellen. Tatsächlich trifft Karola Eberhardt auf einen Legionär, der sich erinnert, mit Daniel ein Bewerbungsgespräch geführt zu haben. Aufgenommen habe man ihn aber nicht, versichert der Mann. Er sei zu jung gewesen. „Ich war ohne Angst“, sagt Karola Eberhardt über ihre Recherchen in fremden Welten, die ihren Sohn nicht zurückgebracht haben.

Die Stille in ihrer Wohnung gibt der 57-Jährigen Halt. Nur das Ticken des Sekundenzeigers der Küchenuhr ist zu hören. Mehr Geräusche würden die Sinne wecken. Früher hat die Verwaltungsangestellte gerne Musik gehört und mitgesungen. Wenn sich dieses Gefühl heute manchmal wieder anschleicht, verscheucht sie es. „Ich kann doch nicht fröhlich sein, wenn mein Kind fehlt.“ Im vergangenen April traut sich Karola Eberhardt mit einer Reisegruppe nach Rom. Sie sucht Ablenkung. Irgendwann kommt das Gespräch auf Romina Power. Die Sängerin, die mit ihrem Albano in der 80er Jahren „Felicità“ schmetterte – und die seit mehr als 17 Jahren ihre Tochter sucht. Ylenia verschwand 1994 in New Orleans. Diese arme Mutter, so viel Leid, sagen die Reisebegleiter. Karola Eberhardt sagt nichts. Sie sucht das Weite. Geweint hat sie schon lange nicht mehr. Ihre Tränen seien versiegt, ihr Herz fühle sich an wie ein Stein, der zerspringen möchte. „Warum kann er sich nicht melden?“

Hoffnung ist besser als Angst

So wie früher. Karola Eberhardt hat nach Daniels Verschwinden Anrufe bekommen, die ihr Hoffnung gaben. Es waren anonyme Anrufe. Für ihre Bekannten schien klar, dass sich jemand verwählt hatte. Für die Mutter war es mehr. Sie redete auf den stummen Unbekannten ein, teilweise eine Viertelstunde lang. Der Anrufer antworte nie, doch ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass dies Lebenszeichen von Daniel waren. Das letzte dieser Art bekam sie 2007. „Es ist nicht gesichert, dass die Anrufe in Verbindung mit seinem Verschwinden stehen“, sagt die Polizei, die nach wie vor Hinweise auf Daniel annimmt.

Nach der Fernsehsendung im November meldeten sich auch zwei Anrufer aus Offenburg. Der eine meinte, Daniel vor Kurzem am dortigen Bahnhof zu gesehen haben, der andere in einem Baumarkt. Dort hat Karola Eberhardt ebenfalls Plakate aufgehängt und Flyer verteilt. Sie zeigen nun auch ein Foto, auf dem Daniel älter aussieht; er wäre jetzt 23. Das Haar ist länger, er trägt einen Bart. Ein Grafiker hat das Bild des 15-Jährigen nach der Vorstellung der Mutter bearbeitet. Karola Eberhardt würde akzeptieren, wenn ihr Sohn nichts mit ihr zu tun haben wollte, sie ihn in Ruhe lassen solle. Hauptsache, er lebt. Die Reise nach Offenburg hat keine neuen Hinweise gebracht, doch der Mutter wieder etwas mehr Hoffnung.

Und Hoffnung, sagt sie, sei besser als Angst.