Mehr als 10 000 minderjährige Flüchtlinge gelten in der EU als vermisst. Einige Behörden fürchten, dass die Kinder Opfer sexueller Ausbeutung werden. Doch der Fehler könnte vor allem im System der Behörden liegen.

Stuttgart - Seit drei Jahren hat Angela Fuder nichts mehr von Ammar ( Name von der Redaktion geändert) gehört. Eines Tages war der 14-jährige Libyer, der unter der Vormundschaft des Stuttgarter Vereins AGDW steht, verschwunden. Fuder meldete ihn bei der Polizei als vermisst, Ammar wurde in die entsprechende Datenbank aufgenommen. „Nach einigen Monaten kam ein Anruf aus Frankreich: Die Polizei hatte Ammar in Calais aufgegriffen, offenbar wollte er nach Großbritannien.“ Der Junge wurde in eine französische Jugendhilfeeinrichtung gebracht. Nach wenigen Tagen entwischte er dort. Das war Ende 2013, seither hat Angela Fuder keine Nachricht mehr erhalten. „Ich mache mir Sorgen um ihn. Er war nicht so gefestigt. Ich könnte mir vorstellen, dass er in schlechte Kreise abgerutscht ist oder auf der Straße lebt.“

 

Ammar ist nur eines von vielen unbegleiteten Flüchtlingskindern, die jeden Tag in Deutschland und Europa verschwinden. Das Bundeskriminalamt berichtete kürzlich, dass zu Jahresbeginn 4749 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge als vermisst galten. Die europäische Polizeibehörde Europol meldete, dass in den vergangenen zwei Jahren 10 000 alleinreisende Flüchtlingskinder verschwunden sind.

Festnahmen in Deutschland?

Beim Bundeskriminalamt (BKA) unterstreicht man aber, dass die Vermissten häufig nach kurzer Zeit wieder auftauchten, die Zahlen also nur eine „Momentaufnahme“ darstellten. Verlasse etwa ein registriertes Flüchtlingskind eine Einrichtung in München, um sich zu Verwandten in Hamburg aufzumachen, werde es als vermisst gemeldet. Häufig werde nicht vermerkt, wenn das Kind andernorts wieder auftauche, so ein Sprecher des Bundesinnenministeriums. Dass ein Teil der Minderjährigen in die Hände Krimineller gefallen sei, könne nicht ausgeschlossen werden, sei jedoch unwahrscheinlich, so die BKA-Sprecherin.

Diese Sorge nährte dagegen ein Europol-Mitarbeiter gegenüber der britischen Tageszeitung „The Observer“. Die Behörde habe konkrete Hinweise dafür, dass einige Flüchtlingskinder sexuell ausgebeutet wurden. Der Stabschef verwies in diesem Zusammenhang auf Festnahmen in Deutschland und Ungarn. Das BKA erklärte auf StZ-Anfrage allerdings, dass keine Festnahmen dieser Art bekannt seien.

In Stuttgart sind 180 Kinder verschwunden

Der Europol-Mitarbeiter verwies außerdem auf den Balkan: Dort hätten Flüchtlingsorganisationen über Probleme mit verschwundenen Kindern geklagt. Man plane daher ein Treffen mit den Polizeibehörden der betroffenen Länder. Auf Nachfrage wollte die Behörde allerdings keine näheren Informationen geben. Eine Rückfrage bei UNICEF Serbien lief ebenfalls ins Leere: „Wir haben dieses Problem bisher nicht wahrgenommen“, erklärte eine Sprecherin.

Auch in Stuttgart kennt man das Problem mit den verschwundenen Minderjährigen: Das Jugendamt verzeichnete im vergangenen Jahr 180 Fälle von Kindern und Jugendlichen, die aus der Obhut des Amtes verschwunden sind. „Wir können allerdings nicht sagen, ob sie nicht in anderen Jugendämtern untergekommen sind“, so ein Sprecher. Im Idealfall tauschten sich die Ämter zwar untereinander aus, wenn ein bereits registrierter Jugendlicher bei ihnen auftauche, „aber das kann angesichts der stressigen Situation, in der wir uns alle befinden, auch mal untergehen“.

Angela Fuder befürchtet, dass einigen der verschwundenen Stuttgarter Kinder Schlimmeres widerfahren ist: „Ich habe gehört, dass minderjährige Flüchtlinge schon auf dem Stuttgarter Straßenstrich gesichtet wurden.“ Der Leiter der Polizei-Dienststelle Prostitution in Stuttgart kann dies allerdings nicht bestätigen: „Wir haben an sich eine verschwindend geringe Zahl von Minderjährigen auf dem Straßenstrich, und Flüchtlingskinder sind nicht darunter.“

Mehr Gefahr könnte in den Unterkünften drohen

Jugendliche, die aus ihren Einrichtungen davonlaufen, mehrfache Registrierungen und mangelnder Austausch zwischen den Ämtern: Die völlige Überforderung der beteiligten Behörden scheint wohl eher ein Grund für die erschreckend hohe Vermisstenzahl zu sein, als eine systematische Entführung und Ausbeutung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge.

Mehr Gefahr als von kriminellen Banden könnte den Kindern im scheinbar sicheren Umfeld drohen: So warnt der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes Heinz Hilgers vor dem Chaos in großen Flüchtlingsunterkünften. „Eine Fülle von Präventionsstrategien sind zusammengebrochen,“ sagte Hilgers. So brauchten beispielsweise auch Flüchtlingshelfer ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis, falls sie mit Kindern arbeiteten. Dieses gibt Auskunft, ob der Stellenbewerber wegen Sexualdelikten an Kindern und Jugendlichen vorbestraft ist. Doch in einigen deutschen Kommunen, etwa in Berlin, seien die zuständigen Behörden so überlastete, dass eine Kontrolle nicht mehr gewährleistet sei. Dabei zeigt der Blick die bekannten Fälle von Kindesmissbrauch in Deutschland, dass die Täter häufig aus dem nächsten Umfeld der Kinder stammen.