Irgendwie hatten es die Projektpartner der Bahn bei Stuttgart 21, die Projektgegner und andere Beobachter schon kommen sehen: Die Fertigstellung des neuen Hauptbahnhofs droht sich erheblich zu verzögern.

Stuttgart/Berlin - Die Fertigstellung des neuen Stuttgarter Durchgangsbahnhofs und des Bahnknotens Stuttgart insgesamt könnte sich um bis zu zwei Jahre verspäten– diese brandneue Botschaft hat am Freitag viele beschäftigt. Die Landesregierung und die Stadt Stuttgart erwarten sich jetzt Informationen. Projektgegner warnen die Bahn eindringlich vor einer Schnellbauweise, die die Mineralwasservorkommen gefährden könnte.

 

Im unionsgeführten Bundesverkehrsministerium will man den bisherigen Zeitplan offenbar nicht über Bord werfen. „Wir gehen davon aus, dass Zeit- und Kostenrahmen eingehalten werden können“, sagte der Parlamentarische Staatssekretär Norbert Barthle. Nach dem Kenntnisstand im Ministerium seien die Arbeiten an der Strecke Wendlingen-Ulm voll im Zeitplan, und über mögliche Beschleunigungsmaßnahmen am Bahnhof müssten die Projektbeteiligten entscheiden.

Hermann: Fertigstellungstermin immer ambitioniert

Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und seine Mitarbeiter im Staatsministerium enthielten sich jeder Kommentierung. Zuständig sei das Landesverkehrsministerium. Der Hausherr dort, Winfried Hermann (Grüne), erinnerte daran, dass er den Fertigstellungstermin 2021 „schon immer für ambitioniert und nicht sehr realistisch gehalten“ habe. Ihm sei nun zugesagt, dass er nach der Sitzung des Bahn-Aufsichtsrates am 15. Juni umfassend informiert werde. Bis dahin werde er nicht spekulieren.

Stuttgarts OB Fritz Kuhn (Grüne) äußerte sich mindestens so zurückhaltend. Die Bahn baue Stuttgart 21, und die Stadt gehe davon aus, dass die Bauherrin pünktlich damit fertig werde. „Wenn es Änderungen gibt, muss die Bahn uns detailliert informieren, und dann werden wir diese Informationen detailliert bewerten“, sagte Kuhn. Erst dann könne man sagen, welche Folgen daraus erwachsen und wie die Stadt damit umgehe. Auf die Frage, was die Folgen für das geplante Rosensteinviertel auf bisherigen Gleisflächen wären sowie für die angepeilte Internationale Bauausstellung, gab es im Rathaus keine Antworten. Klar ist, dass die Bahn die letzten der von der Stadt gekauften Grundstücke spätestens Ende 2020 freigeben muss. Bei Verzögerungen fallen Verzugszinsen an. Über die Höhe des Betrags könne man noch nichts sagen, erklärte ein Sprecher der Stadt.

Flughafen-Chef Walter Schoefer will keine Bewertung abgeben

Auch der dritte Projektpartner der Bahn, der Verband Region Stuttgart, enthält sich inhaltlicher Bewertung. Man sei von der Bahn am Freitag „kurz und knapp“ über mögliche Verzögerungen und Chancen, diese aufzuholen, informiert worden, sagte der Verkehrsdirektor Jürgen Wurmthaler. Er erwarte, dass die Bahn in der Sitzung des Lenkungskreises am 30. Juni umfassend informiere. Dem neuen Tiefbahnhof, aber auch der neuen Station am Flughafen, die auf Drängen der Region mit einem dritten Gleis ausgestattet wird, misst die Region eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung des regionalen Schienenverkehrs bei. Zuletzt machte sie sich für Verbesserungen wie zusätzliche Weichen und kurze Verbindungsstrecken stark, die es ermöglichen, im Zuge des Projektes mehr tangentiale Linien einzurichten.

Flughafen-Chef Walter Schoefer, der als Gast dem Lenkungskreis für Stuttgart 21 angehört, weil das Unternehmen das Bahnprojekt mitfinanziert, mochte mangels Informationen keine Bewertung abgeben. Er hatte bis Freitag mit den „groben Anhaltswerten“ kalkuliert, dass am Flughafen auf der Neubaustrecke voraussichtlich Ende 2021 Züge fahren, die Gäubahn-Anbindung mit einem Zeitverzug von einem Jahr bis zu zwei Jahren in Betrieb ginge. Wenn der Stuttgarter Bahnhof nun später fertig werden sollte, könnten auch auf der Neubaustrecke Stuttgart-Ulm keine Züge fahren und am Flughafen halten. Über die Frage, ob der Flughafen dann Zuschussmillionen teilweise zurückfordern könnte, mochte Schoefer nicht reden. Immerhin erhofft sich sein Unternehmen jedes Jahr rund eine Million zusätzliche Fluggäste vom neuen Bahnknoten, was einem Umsatz von rund 25 Millionen Euro entsprechen dürfte. Schoefer hofft, dass es noch Optimierungschancen gibt. Er werde sich jetzt um Informationen bemühen.

Sabine Leidig erneuert Ausstiegsforderung

Bei den Projektgegnern ist die Empörung groß, auch beim Bund für Umwelt und Naturschutz. Das liegt daran, dass Bahn-Vorstand Volker Kefer günstigere Bauabläufe beim Hauptbahnhof im Sinn haben soll, was bisherigen Auflagen zum Schutz des Mineralwassers widerspräche. „Mit dem Aufweichen des Wasserschutzes lässt Kefer seine bisher freundlich-lächelnde Maske fallen“, sagte Regionalgeschäftsführer Gerhard Pfeifer. Der Bahn-Vorstand wolle die Zeitprobleme von Stuttgart 21 mit dubiosen Methoden beschleunigen und mehr Baugruben für den Tiefbahnhof gleichzeitig ausheben lassen als bisher von der Genehmigungsbehörde Eisenbahnbundesamt erlaubt. Dieses Vorgehen würde die „erhebliche Gefahr einer unwiederbringlichen Schädigung des Stuttgarter Mineralwasservorkommens“ mit sich bringen. Je mehr abdeckende Erdschichten gleichzeitig entfernt würden, desto größer sei die Gefahr eines Mineralwasseraufstiegs, der die Mineralwasserzu- und -abströme in Stuttgart verändern könnte. Die Folge könnte ein Versiegen der Quellen für die Mineralbäder Berg und Leuze sein. In eine ähnliche Kerbe hieb der Grünen-Bundestagsabgeordnete Matthias Gastel aus dem Kreis Esslingen. Bei Stuttgart 21 laufe nach wie vor nichts nach Plan, weil die Deutsche Bahn gar keinen habe. Nun auch noch zu fordern, dass von wesentlichen Bauvorgaben abgewichen werden darf, stelle eine Bankrotterklärung der Deutschen Bahn dar. Bahnbetriebliche, sicherheits- und umweltrelevante Vorgaben für den S-21-Bau seien nicht verhandelbar.

Sabine Leidig, Bahnexpertin der linken Bundestagfraktion, nahm die neue Entwicklung zum Anlass für eine Ausstiegsforderung. Statt eine endlose Misere weiter zu treiben und weitere Milliarden von Euro in diese Grube zu schütten, müsse der Bahnvorstand endlich den Umstieg planen. Alternativen lägen vor.