In einer Wohnanlage in Tamm wurde getestet, ob das Stromnetz kollabiert, wenn plötzlich viele Menschen Elektroautos nutzen. Im Interview berichtet der Projektleiter der Netze BW, was ihn überrascht hat.

Klima und Nachhaltigkeit: Julia Bosch (jub)

Tamm - Inzwischen sind sich die meisten einig: Der Verbrennermotor kann und wird uns nicht mehr ewig erhalten bleiben. Wir müssen auf alternative Antriebsarten setzen – also auf Elektromobilität, Wasserstoff oder Hybridfahrzeuge. Besonders beliebt sind derzeit rein batteriebetriebene Elektroautos: Zwischen Januar und September 2021 wurden mehr als 236 000 Elektroautos in Deutschland neu zugelassen - das sind schon jetzt mehr als im gesamten Jahr 2020 (194 000) und viel mehr als 2019 (63 000). Und im September 2021 wurden laut Kraftfahrtbundesamt mit 17,1 Prozent mehr batterieelektrische Autos zugelassen als reine Dieselantriebe (15,9 Prozent). Plug-in-Hybride kamen auf 12,7 Prozent, Benziner auf 35,9 Prozent.

 

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Doch was passiert, wenn sich immer mehr Menschen Elektroautos anschaffen? Sind unsere Stromnetze überhaupt dafür ausgelegt, dass so viele Menschen ihr Auto abends ans Netz hängen, um damit am nächsten Morgen wieder loszufahren? In der Wohnanlage Pura Vida in Tamm (Kreis Ludwigsburg) wurde genau dies kürzlich getestet. Die Netze BW hat den Bewohnern für die Zeit von 16 Monaten insgesamt 45 E-Fahrzeuge zur Verfügung gestellt und 58 Ladepunkte in deren Tiefgarage installiert. Was bei dem Projekt rauskam und wovon die Mitarbeiter von Netze BW überrascht wurden, berichtet der Projektleiter Ralph Holder im Interview.

Warum wurde die Wohnanlage in Tamm für diesen Versuch ausgewählt?

Wir hatten auch schon E-Mobilitäts-Versuche in einer typischen Vorstadt-Gegend in Ostfildern und im ländlicheren Raum in Kusterdingen. Weil aber mehr als 53 Prozent der Wohneinheiten in Deutschland Mehrfamilienhäuser sind, haben wir diesen großen Versuch gewagt. Die Wohnanlage Pura Vida hat eine Tiefgarage mit 85 Stellplätzen. Und alle Bewohner haben zugestimmt. Übrigens war es das bisher einzige Projekt in dieser Größenordnung in Deutschland.

Welche Vorbereitungen waren nötig?

Wir haben 58 Ladepunkte in die Tiefgarage gebaut, also an zwei Drittel aller Parkplätze. Es wurden elf Kilometer Kabel verlegt. Und wir haben 45 E-Fahrzeuge für die Hausbewohner zur Verfügung gestellt. Einige hatten bereits ein E-Auto oder ein hybrides Fahrzeug. Für viele war es aber der erste Berührungspunkt mit E-Mobilität. Wir haben deshalb dazu ermutigt, die E-Fahrzeuge für wirklich alle Fahrten zu nutzen: zur Arbeit, aber auch in den Urlaub. Das haben die Leute auch gemacht und sind an die Ostsee, in die Beneluxländer und in die Schweiz damit gefahren.

Welche Annahmen hatten Sie im Vorhinein?

Wir hatten damit gerechnet, dass zu Spitzenzeiten bis zu 30 der 58 Ladepunkte gleichzeitig genutzt werden. Tatsächlich waren es aber nie mehr als 13 gleichzeitig, was 28,9 Prozent entspricht. Maximal wurde eine Leistung von 98 Kilowatt aufgerufen. Das Ladeverhalten der Menschen hat sich über die Dauer des Versuchs stark verändert. Am Anfang haben die Leute oft geladen, aber nur wenig Energie benötigt. Sie hatten Bedenken wegen der Reichweite und haben daher öfter geladen, auch wenn der Akku noch nicht leer war. Später wurden die Leute entspannter und haben seltener geladen mit mehr Energie.

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In Tamm wurde ein sogenanntes Lademanagementsystem eingesetzt. Was ist das?

Das Lademanagementsystem bietet viele Vorteile, falls doch mal viele gleichzeitig ihr Fahrzeug laden. Wären alle 58 Ladepunkte gleichzeitig im Einsatz gewesen, hätte das einer Leistung von 638 Kilowatt entsprochen. Dafür bräuchte es eine Trafostation in der Größe einer Einzelgarage. Das ist aber nicht nötig. Denn die meisten hängen ihr Auto zwischen 18 und 22 Uhr ans Stromkabel, wenn sie von der Arbeit oder dem Sport nach Hause kommen. Sie brauchen es erst am nächsten Morgen wieder – und genau diese Flexibilität nutzt ein Lademanagementsystem. Ohne Lademanagementsystem dauert es zweieinhalb Stunden im Schnitt, bis die Batterie eines Elektrofahrzeugs wieder aufgeladen ist, mit Lademanagement – je nach Konfiguration – dreieinhalb Stunden. Die Fahrzeuge werden also länger, aber mit weniger Leistung geladen. Dadurch werden kurze Lastspitzen vermieden, die für Stromnetzbetreiber schmerzlich sind.

Sind die Ergebnisse aus Tamm übertragbar, könnten also in jedem Mehrfamilienhaus mehrere Menschen gleichzeitig ihr E-Fahrzeug laden?

Das Fahrverhalten, die Gleichzeitigkeit des Ladens und die Auslastung des Stromnetzes lassen sich aus dem Versuch in Tamm sehr gut auf andere Wohnanlagen übertragen. Aber natürlich ist jedes Haus und jede Elektroinstallation einzigartig, deshalb sollte man deshalb immer einen Elektriker fragen, ob der Anschluss ausreicht und was möglich ist. Noch davor sollte man aber klären, wie viele aus dem Haus oder der Wohnanlage tatsächlich ein E-Fahrzeug fahren oder es sich für die Zukunft vorstellen könnten. Wenn nur einer oder zwei sich das vorstellen können, reicht eine Wallbox aus, also eine normale Ladestation für zuhause.

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Wie ging es in Tamm nach dem Versuch weiter?

Nach 16 Monaten haben wir die 45 E-Fahrzeuge wieder zurückgenommen. Die Eigentümergemeinschaft hat sich dazu entschieden, die Ladeinfrastruktur zu übernehmen, weil das Interesse an E-Mobilität durch den Versuch unheimlich gewachsen ist. Mehrere haben sich inzwischen ein eigenes E-Auto gekauft.