Mitten in der Nacht wirft eine Mutter ihre drei kleinen Kinder aus dem obersten Fenster ihres Hauses. Eine Nachbarin hält die Schreie zunächst für Tierlaute.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Krefeld - Die Fenster im zweiten Stock der ehemaligen Gaststätte im Krefelder Vorort Hüls sind verschlossen. Das Haus im Norden der nordrhein-westfälischen Stadt ist ein unscheinbarer beigefarbener Altbau. Vom kleinen Fenster im Dachgeschoss dürften es sieben oder acht Meter bis zum harten Asphalt sein. Hüls ist eine bürgerliche Wohngegend, kein Problembezirk. Der Ort mit über 900-jähriger Geschichte wurde 1975 der Großstadt Krefeld zugeschlagen.

 

Im zweiten Stock spielt sich eine Tragödie ab

Auf den ersten Blick gibt es keine Spuren der furchtbaren Tragödie, die sich vor wenigen Stunden an einem dieser Fenster im Dachgeschoss des Hauses abgespielt hat. M

Frühmorgens am Montagmorgen (13. Juni) zwischen 4.30 und 4.45 Uhr soll eine 33-jährige Mutter das Fenster im zweiten Stock ihrer Wohnung geöffnet und ihre drei Kinder eins nach dem anderen aus dem Haus an den Bahnschienen geworfen haben.

Es sind zwei kleine Jungen im Alter von drei und fünf Jahren sowie ihre ältere Schwester, ein sechsjähriges Mädchen. Die alleinerziehende Mutter hat ihre Kinder vermutlich aus dem Dachfenster geworfen, bevor sie versuchte, sich selbst umzubringen.

Als ein Radfahrer die drei, fünf und sechs Jahre alten schreienden und weinenden Kinder findet, sind sie in Lebensgefahr. Auch Stunden später ist ihr Zustand kritisch. In der Wohnung stößt die Polizei auf die Mutter: Auch sie befindet sich zunächst in Lebensgefahr, bald darauf geben die Ärzte für die 33-Jährige aber Entwarnung.

Geschockte Anwohner, ratlose Polizisten

Die Anwohner stehen unter Schock: „Das hätten wir der Frau nicht zugetraut“, sagt ein älteres Paar. „Das war so eine nette Familie. Es ist sehr tragisch, was dort passiert ist.“ Eine Nachbarin sagt, sie sei von Schreien wach geworden und habe zunächst gedacht, es seien irgendwelche Tiere. „Bei genauerem Hinhören dachte ich mir: Das können keine Katzen sein“, sagt die Frau. „Das ist ein Kind!“

Die Mutter sei eigentlich immer sehr nett mit ihren Kindern umgegangen, sagt sie. Was treibt eine Mutter dazu, ihre drei Kinder aus dem Fenster zu werfen? Erklären möchte sich die Frau den Ermittlern nicht, obwohl sie dazu befragt wird.

Später unterhält sich ein Psychiater mit der Nachbarin. Ob er sich einer Antwort annähern konnte, ob sich die Frau ihm anvertraut hat, bleibt zunächst ein Geheimnis der Polizeibeamten. „Wir stehen noch ganz am Anfang“, heißt es bei der Krefelder Staatsanwaltschaft.

Hintergründe? Motive? Die Ermittler tappen im Dunkeln

Der von der Frau getrennte Vater der Kinder, der woanders lebt, wird informiert. Kann er das Geschehen aufhellen? Mit Hintergründen und möglichen Motiven halten sich die Ermittler zunächst bedeckt.

Die Staatsanwaltschaft hat noch bis zum Dienstag (14. Juni) Zeit zu entscheiden, ob sie Untersuchungshaft oder die Einweisung der Frau in eine Akutpsychiatrie beantragen wird. Auf eine von beiden Möglichkeiten wird es definitiv hinauslaufen, denn außer ihr war niemand in der Wohnung. Die 33-Jährige ist dringend tatverdächtig.

Auf der Rückseite des Hauses ist die Eingangstür gleich mehrfach versiegelt. Sie führt zu jener Wohnung im Dachgeschoss. Kurz zuvor haben vier Zivilbeamte das Haus wortlos verlassen und sind davongefahren.

Was sind die Motive für eine solche Tat?

Psychologie spricht von erweitertem Suizid

In der Psychologie spricht man nach Aussage des Wiesbadener Kriminalpsychologen Rudolf Egg– einem der versiertesten Experten auf diesem Gebiet – von einem „erweiterten Suizid“. „Diese Frau weiß aus welchen Gründen auch immer – das kann Ergebnis einer Krankheit oder einer Beziehungs- oder Lebenskrise sein – nicht mehr weiter und möchte aus dem Leben scheiden.“
Der emeritierte Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg und ehemalige Direktor der Kriminologischen Zentralstelle des Bundes und der Länder (KrimZ) in Wiesbaden kennt solche schrecklichen Fälle aus seinem Berufsleben. Er versucht die Tat zu erklären.

Eine Tat aus Mitleid und Mutterliebe

Die Frau „möchte ihren kleinen Kindern ersparen, dass sie diese ohne sie aufwachsen müssen und in fremde Hände kommen und deshalb will sie sie mit in den Tod nehmen. Das ist eine Form von Fürsorge oder Mitleid, welche die Annahme in sich birgt, dass man selber derjenige ist, der dem Kind oder den Kindern das Leben nehmen darf, weil man es ihm oder ihnen auch gegeben hat. Das ist der psychisch gestörte Anteil an einem solchen Fall.“
„Die Verzweiflung muss extrem groß sein“, sagt der 67-jährige Kriminalpsychologe aus Wiesbaden. „Die Kinder müssen aber auch eine extrem große Bedeutung für diese Frau haben. So dass sie das Schicksal der Kinder mit ihrem eigenen Schicksal verknüpft, so als wären sie eins.“