Für die Verteidigung der Stadt Charkiw will die Ukraine mit westlichen Waffen auf Ziele in Russland feuern. Wie geht Deutschland damit um?
Seit Deutschland der Ukraine Waffen liefert, gibt es immer wieder Debatten über diese Unterstützung. Bislang ging es vor allem darum, welche Systeme geliefert werden – Kampfpanzer ja, Taurus-Marschflugkörper nein. Doch aktuell wird eine andere Frage diskutiert: Nämlich ob die Ukrainer mit deutschen Waffen auch russisches Territorium angreifen dürfen. Ein Überblick.
Warum kommt die Debatte gerade jetzt auf?
Russland hat in den vergangenen Wochen immer wieder Angriffe auf Charkiw gestartet. Die Millionenstadt im Nordosten der Ukraine liegt nur 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Für diese Angriffe zieht Russland auf eigenem Territorium Truppen zusammen, legt Munitionsdepots an und startet auch Raketenangriffe. Bisher können sich die russischen Truppen dort recht sicher fühlen. Doch die ukrainischen Streitkräfte wollen auch weitreichende westliche Waffen nutzen, um die Vorbereitungen der Russen zu stören. Russlands Machthaber Wladimir Putin hat allerdings erklärt, er sähe darin eine Eskalation des Krieges.
Was hat das Ganze mit dem Besuch von Emmanuel Macron in Deutschland zu tun?
Zum Abschluss von Macrons Besuch in Deutschland haben sich der französische Präsident und Scholz den Fragen der Journalisten gestellt. Macron fand dabei deutliche Worte zum Thema, ob die Ukraine westliche Waffen auch auf russischem Gebiet einsetzen darf. Macron empfahl, „dass wir ihnen erlauben sollten, die Militärstandorte, von denen aus die Raketen abgefeuert werden, und im Grunde genommen die militärischen Standorte, von denen aus die Ukraine angegriffen wird, zu neutralisieren.“ Und Scholz? Der Kanzler Rätsel auf. Er sagte, die Ukraine habe völkerrechtlich alle Möglichkeiten für das, was sie gegen die russischen Angreifer tue.
Wie sind Scholz Worte zu interpretieren?
Dass die Ukraine als angegriffener Staat vielfältige Möglichkeiten hat, ist weder neu noch überraschend. Doch der Sound des Kanzlers ist ein anderer als zum Beispiel vor einem Jahr in der estnischen Hauptstadt Tallinn. „Und gleichzeitig ist klar, dass die Waffen, die wir geliefert haben, nur auf ukrainischem Territorium eingesetzt werden“, hatte Scholz damals gesagt. Das klang nach einer klaren roten Linie. Und es wirft die Frage auf, ob sich jetzt etwas ändert. Regierungssprecher Steffen Hebestreit wich entsprechenden Fragen in der Bundespressekonferenz in dieser Woche aber aus – und zog sich darauf zurück, dass die bestehenden Vereinbarungen vertraulich seien.
Ganz klar, Scholz will keine öffentliche Debatte. Nimmt man aber zusammen, was der Kanzler früher gesagt hat und was er jetzt nicht sagt, liegt die Interpretation nahe: Die Bundesregierung wird wohl nicht protestieren, wenn die Ukraine zur Verteidigung Charkiws mit deutschen Waffen auf überschaubare Distanz auf russische Militärziele schießen sollte. Da, wo eine rote Linie war, tut sich anscheinend eine neue Grauzone auf.
Um welche Waffen geht es?
Im Kern dürfte es um zwei Artilleriesysteme mit großer Reichweite gehen, die Deutschland geliefert hat: die Panzerhaubitze 2000 und der Mehrfachraketenwerfer Mars II. Sie haben eine Reichweite von bis zu 60 beziehungsweise über 80 Kilometer. Damit wäre die ukrainische Armee in der Lage, etwa im Raum Charkiw auch Ziele auf russischem Boden anzugreifen.
Was ist die Rolle der USA?
Die USA sind der wichtigste Waffenlieferant der Ukraine. Für Angriffe auf Ziele in Russland dürfen die Ukrainer diese Waffen aber bisher nicht nutzen. Doch Worte von US-Außenminister Antony Blinken lassen aufhorchen. Bei einem Besuch im kleinen ukrainischen Nachbarland Moldau hat er gesagt, die US-Regierung hat ihre Unterstützung für die Ukraine stets an sich verändernde Bedingungen angepasst. Und: Er sei zuversichtlich, dass dies weiterhin geschehen wird. Das letzte Wort liegt aber fraglos bei US-Präsident Joe Biden. Klar ist auch: Kanzler Scholz hat bislang immer wert daraufgelegt, im Einklang mit ihm zu handeln.