Das Haus der Geschichte Baden-Württemberg erinnert an die Anfänge der Demokratie im Südwesten und liefert damit alles andere als trockenen Geschichtsunterricht.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Die Damen hatten Power unterm Popo. Helene Wranovsky jagte mit ihrem Motorrad über die Solitude-Rennstrecke „wie Sau“, wie der Herr Papa freudig kommentierte. Die 17-Jährige war zwar noch zu jung, um sich selbst für das Rennen anzumelden, aber die „flotte Helene“, wie man sie fortan nannte, schaffte es 1924 lässig auf den zweiten Platz. Auch Hilda Wickenhäuser verwies die männliche Konkurrenz in ihre Schranken. Sie war eine der bekanntesten Autorennfahrerinnen der Weimarer Republik und machte 1923 auf der Solitude ebenfalls den zweiten Platz – ihr Mann, mit dem sie in München ein Autohaus aufgebaut hatte, schaffte es nur auf den dritten.

 

Es ist bekannt, dass in den Zwanzigerjahren ein toleranter und offener Geist in Deutschland wehte. Das Haus der Geschichte Baden-Württemberg in Stuttgart zeigt nun auf angenehm anschauliche Weise, warum das so war: „Vertrauensfrage“ nennt sich die Große Landesausstellung, die sich mit dem Anfang der Demokratie im Südwesten in den Jahren zwischen 1918 und 1924 beschäftigt. Das klingt spröde und nach trockenem Geschichtsunterricht, aber es ist spannend wie ein Krimi, wie sich vor genau hundert Jahren auch in Stuttgart die Ereignisse überschlugen. Proteste allüberall, die Matrosen meuterten, die Arbeiter streikten. Auch die Stuttgarter ziehen nun in Scharen durch die Stadt, die Eberhardstraße ist rappelvoll, wie eine alte Fotografie zeigt. Die Menschen stürmen das Wilhelmspalais, König Wilhelm II. und seine Frau werden nach Bebenhausen abgeschoben. Nach ereignisreichen Tagen beginnt eine neue Zeitrechnung: Die Monarchie hat ausgedient. Friedrich Ebert wird Reichspräsident und die junge Demokratie versucht Fuß zu fassen.

Die Jugend für „Geist und Sittenreinheit“ will keine schmutzigen Filme

Die neue Ausstellung erinnert zwar auch an die politischen Ereignisse, aber es geht um mehr. Das Kuratorenteam will zeigen, was nötig ist, damit sich eine Demokratie durchsetzen kann: Teilhabe, Sicherheit, Zugehörigkeit oder auch Vielfalt. Selbst wenn Homosexualität in den Zwanzigern verboten ist, kursieren nun auch einschlägige Zeitschriften mit diskret verklausulierten Kontaktanzeigen: „Kaufmann wünscht Gedankenaustausch mit edlem Herrn“. In die Kinos kommen Aufklärungsfilme, auch wenn die Jugend für „Geist und Sittenreinheit“ dagegen ist, dass „schmutzige Filme“ wie „giftige Reptilien durch die deutschen Lande“ klappern.

Die ersten Jahre der Weimarer Republik sind geprägt von einem neuen, durchaus sozialen Denken. Man diskutiert nun den Acht-Stunden-Tag, die Politik setzt sich auch ein für eine „gesunde Wohnung“ für jeden und startet Bauprogramme. 1919 wird in Stuttgart auf der Uhlandshöhe die erste Waldorfschule gegründet – Stofftiere und Püppchen erinnern in der Ausstellung an diese neue Pädagogik, die Emil Molt, der Chef der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria finanziert. In den Zeugnissen der Waldorf-Schüler stehen nicht mehr nur nüchterne Noten, sondern persönliche Beurteilungen, die die Stärken des Einzelnen würdigen.

Thomas Schnabel, der Leiter des Hauses der Geschichte, will mit der Ausstellung eine Ungerechtigkeit in der Geschichtsschreibung gerade rücken. Die Weimarer Republik werde immer nur im Kontext von Hitlers Machtergreifung betrachtet. „Das ist unfair“, sagt Thomas Schnabel, denn die Leistungen in den ersten Weimarer Jahren würden dabei nicht ausreichend zur Geltung kommen. Das wolle er nun ändern und mit der Schau aufzeigen, wie konfliktfrei viele Widerstände in der jungen Republik überwunden werden konnten.

Blutbrot aus gespresstem Strohmehl und Tierblut soll den Hunger stillen

Leicht hatte es die deutsche Demokratie damals nicht. 1918 hatten die Bürger das Vertrauen in die Politik endgültig verloren, der Krieg hatte das Land zermürbt und das Volk aufgebracht. Ein Stück „Blutbrot“, gepresstes Strohmehl und Tierblut, erinnert in der Ausstellung daran, wie groß Hunger und Not damals waren.

Die neue Regierung schafft es dennoch, Erschütterungen zu trotzen, Putschversuche abzuwehren und die Lage zu stabilisieren – unter anderem durch Erholungsheime, in denen Kinder wieder aufgepäppelt werden und „die gedrückten, zerzausten kleinen Seelen ihre Flügel ausspannen“ dürfen, wie es ein Zeitgenosse formuliert.

Die Ausstellung eröffnet schöne Zugänge zum Thema, weil sie nicht nur auf die politischen Akteure schaut, sondern auch aufs Volk, etwa auf Eleonore Kiesel, eine junge Frau aus Ludwigsburg, deren hölzerner Fächer für die Tanzstunde erhalten geblieben ist samt Grüßen und Sprüchen, die die Tanzherren darauf hinterlassen haben: „Pflück die Freuden, wie sie blühen.“

Marianne Weber war die erste Frau im Landtag der Republik Baden. Die Parteifreunde gingen „ganz behutsam mit ihrer Frau“ um, konstatiert Weber zufrieden. Die selbstbewusste Frauenrechtlerin macht aber auch deutlich, dass die Frauen bestens gerüstet seien, um nun endlich auch in Politik und Gesellschaft mitzuwirken. Während des Krieges hätten „Millionen von uns draußen ihren Unterhalt selbst erwerben“ und Männerarbeit leisten müssen. Höchste Zeit also, dass sie wählen dürfen.

Die Ausstellung schlägt mit Mitmachstationen den Bogen in die Gegenwart

Mehrere interaktive Stationen während des Rundgangs schlagen den Bogen auch in die Gegenwart, denn die derzeitigen Debatten über verlorenes Vertrauen in die Politik geben der Ausstellung eine Aktualität, mit der das Museum bei der Konzeption so noch nicht gerechnet hatte. Besucherinnen und Besucher, die schon mal an einer Demonstration teilgenommen haben, können ein Foto von sich hinterlassen, an anderer Stelle darf über das Wahlrecht mit 16 Jahren abgestimmt werden oder über das Thema Bürgerbeteiligung.

So macht diese diese äußerst sehenswerte Ausstellung auch beiläufig bewusst, dass hinter dem derzeit allzu überstrapazierten Schlagwort Demokratie nicht nur etwas sehr Konkretes steckt, sondern auch etwas überaus Wertvolles.