Ganze Stadtviertel in den türkischen Kurdengebieten liegen in Trümmern, Vertriebene fürchten den nahenden Winter. Unter den Kurden herrschen Angst, Wut – und Hoffnungslosigkeit: Kaum jemand interessiert sich für ihr Schicksal. Sogar im eigenen Land.

Cizre/Nusaybin - Die 35-jährige Kurdin ist verzweifelt, sie kann kaum an sich halten. „Niemand kümmert sich um Sirnak“, bricht es aus ihr heraus. „Bitte schauen Sie, was in Sirnak geschieht.“ Die Provinzhauptstadt in der Südosttürkei ist seit mehr als sieben Monaten unter Ausgangssperre und von Sicherheitskräften abgeriegelt, die meisten Bewohner mussten Sirnak verlassen. Die 35-Jährige ist in die nahegelegene Stadt Cizre gekommen, um Hilfe zu suchen – weil sie nicht weiß, wohin sie mit ihrer Familie noch fliehen soll.

 

Die verängstigte Frau will weder fotografiert werden noch ihren Namen nennen. Mit ihrem Ehemann und fünf Kindern sei sie in einem Zelt außerhalb von Sirnak untergekommen, sagt sie bei einem Treffen – wie Tausende andere Bewohner der kurdischen Stadt auch. Vor wenigen Tagen seien um 5 Uhr morgens Soldaten gekommen. „Sie haben uns geweckt und uns gesagt, wir müssten auch die Zelte verlassen. Aber sie haben uns nicht gesagt, wohin wir gehen sollen.“ Im nahenden Winter fällt die Temperatur in der Gegend unter den Gefrierpunkt.

„Sie haben unser Sirnak zerstört“, sagt die Kurdin. „Sirnak gibt es nicht mehr.“ Auch die pro-kurdische HDP wirft Präsident Recep Tayyip Erdogan einen „koordinierten Zerstörungsfeldzug“ gegen Sirnak vor, unter Verstoß gegen die Verfassung und internationales Recht. In einem internationalen Appell kritisiert die Oppositionspartei, 65 000 der 69 000 Bewohner Sirnaks seien „massendeportiert“, 80 Prozent der Gebäude dem Erdboden gleichgemacht worden.

Türkische Regierungskreise sprechen von „erfundener Geschichte“

Auch die HDP beschuldigt die Regierung, die Flüchtlinge sogar aus den Zelten vertreiben zu wollen – oder bereits vertrieben zu haben. Aus türkischen Regierungskreisen heißt es dazu, die Darstellung der Lage durch die HDP sei „eine großartige erfundene Geschichte“.

Aus Sicht der Regierung sind die Operationen in Sirnak und andernorts in der Südosttürkei Teil ihres legitimen Kampfes gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK, die vernichtet werden soll. Die PKK – die auch in der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft wird – hat den Krieg im vergangenen Jahr in die kurdischen Städte in der Region getragen. Junge Kämpfer der PKK-nahen YDG-H riegelten ganze Viertel ab und lieferten sich teils monatelange Häuserkämpfe mit den Sicherheitskräften, die dabei Artillerie und Kampfpanzer einsetzten.

Eines der durch den Beschuss mit schweren Waffen zerstörten Viertel in der 130 000-Einwohner-Stadt Nusaybin ist Abdul Kadir Pascha. Die Behörden haben einen hohen Zaun um das menschenleere Viertel gezogen und „Betreten-verboten“-Schilder angebracht. Ein Kanal, der kaum Wasser führt, verläuft an der Grenze. In seinem Bett liegen die Reste eines zerschossenen Tanklasters, ein Schäfer weidet seine Tiere. Auf einer halbverdorrten Rasenfläche sitzen vier alte Männer. Schweigend starren sie auf die Trümmer hinterm Zaun, in denen sie einst lebten.

Auch die PKK hat Sympathien eingebüßt

„Diese zerstörten Häuser waren unsere Häuser“, sagt ein 70-Jähriger. Wer verantwortlich sei? „Wir sollten nicht lügen. Mein Haus wurde von Kurden zerstört“, sagt er. YDG-H-Kämpfer hätten daneben einen Sprengsatz platziert. „Ich habe sie aufgefordert, ihn wegzumachen. Sie sagten, sie hätten ihre Befehle aus Kandil bekommen, und wenn sie die Befehle nicht ausführten, würden sie als Verräter gelten.“ Im nordirakischen Kandil sitzt das Hauptquartier der PKK.

„Es ist die Schuld der PKK“, sagt der Mann. Der Staat sei zwar mitverantwortlich. „Aber der Staat war uns schon immer feindlich gesonnen.“ Er fügt hinzu: „Außer Gott haben wir niemanden.“

Der alte Mann spricht aus, was auch andere in der Region hinter vorgehalter Hand sagen: Der Staat behandele Kurden ohnehin als Bürger zweiter Klasse, meinen sie. Aber auch die PKK - die gewaltigen Einfluss in Städten wie Sirnak, Nusaybin oder Cizre hatte - habe Sympathien eingebüßt.

Zwischen die Fronten geraten ist die HDP, die bei der Parlamentswahl im November nur knapp die Zehn-Prozent-Hürde schaffte. Ihr wird vorgeworfen, die Zerstörung der Städte nicht verhindert zu haben - womit der Einfluss der von Erdogan und der PKK bedrängten Partei allerdings stark überschätzt werden dürfte.

Alleine bei den Kämpfen in Sirnak und Nusaybin will die Armee zwischen März und Juni 1000 PKK-Kämpfer getötet oder gefangen genommen haben. Was geblieben ist bei den Menschen dort: Angst, Enttäuschung, Wut - und ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Denn es stimmt, was die aus Sirnak vertriebene Frau sagt: Nicht einmal im Westen der Türkei, nicht einmal im eigenen Land kümmert die Menschen das Schicksal der Vertriebenen aus Sirnak. Die meisten Türken dürften davon gar nicht wissen. Selbst wenn es sie interessierte: Über die herkömmlichen Medien würden sie kaum Informationen darüber bekommen.

Medien sind auf Regierungskurs

Die meisten türkischen Medien sind inzwischen auf Regierungskurs, Nachrichtenkanäle bestreiten einen großen Teil ihres Programms mit Auftritten von Erdogan oder Regierungsmitgliedern. Zahlreiche kritische und pro-kurdische Sender, die noch über den Konflikt im Südosten berichtet hatten, hat die Regierung kürzlich unter Berufung auf die Notstandsdekrete abgeschaltet.

In den Kurdengebieten wurden mehr als 11 000 Lehrer unter Terrorverdacht suspendiert. In mehr als zwei Dutzend Städten und Gemeinden wurden die gewählten Bürgermeister aus demselben Grund durch staatliche Zwangsverwalter ersetzt. Die Bürgermeister der Kurdenmetropole Diyarbakir werden festgenommen. Der jüngste Schlag: Bei nächtlichen Razzien nahm die Polizei zahlreiche Parlamentsabgeordnete der HDP fest, darunter die beiden Parteichefs.

„Erdogan hat einen Krieg gegen die Kurden begonnen, um seine Macht auszubauen“, meint ein Gemeinderatsmitglied in Nusaybin. „Der Krieg war nicht unsere Wahl.“ In der örtlichen Zentrale der DBP - des kommunalen Ablegers der HDP - hängt ein Bild des PKK-Chefs Abdullah Öcalan. Die hier versammelten Männer lachen, als sie auf die Aussage von Ministerpräsident Binali Yildirim angesprochen werden, wonach immer weniger Jugendliche „in die Berge gehen“ - ein Euphemismus dafür, wenn sich junge Kurden der PKK anschließen.

„Es gehen eindeutig mehr Menschen in die Berge“, sagt das Gemeinderatsmitglied. Ob die Gewalt noch zunehmen werde? „Definitiv“, meint der Mann. „Der Staat besteht darauf, Krieg zu führen.“

Ein anderes Gemeinderatsmitglied schaltet sich in die Diskussion ein; der Kurde übt Kritik auch an Europa. Die EU traue sich nicht, Erdogan Einhalt zu gebieten, glaubt er - um den Flüchtlingspakt nicht zu gefährden. „Europa schweigt, während unsere Städte zerstört werden.“