Die Sozialarbeiterin Bärbel Albrecht und die Pfarrerin Gisela Vogt waren die Gesichter der Ludwigsburger Vesperkirche. Jetzt hören beide auf. Beim Abschied mit Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl gab es stehende Ovationen.

Ludwigsburg: Susanne Mathes (mat)

Am Freitag erst ist Bärbel Albrecht wieder mal aufgegangen, welches Standing die Vesperkirche mittlerweile in Ludwigsburg hat. Eine Flüchtlingsfamilie mit neun Kindern war orientierungslos am Ludwigsburger Bahnhof gestrandet, ein Passant nahm sich ihrer an und brachte sie in die Friedenskirche, wo gegen halb eins gerade Hochbetrieb herrschte. „Es hat mich berührt, dass die Vesperkirche so im Bewusstsein der Menschen ist, dass jemand denkt: Dort kann diesen Leuten für den ersten Moment weitergeholfen werden“, sagt Bärbel Albrecht.

 

Landratsamt und Stadtverwaltung waren schon geschlossen. In der Vesperkirche bekam die Familie erst mal ein warmes Essen – „es fanden sich auch gleich zwei Leute, die dafür bezahlt haben“, so Albrecht – , Kleidung von der Vesperkirchen-Kleiderecke und Spielsachen. Später nahm sich die Polizei der Unterbringung der Familie an.

Es sind Begebenheiten wie diese, die Bärbel Albrecht, 58, und Gisela Vogt, 63, zeigen, welche Bedeutung ihr „Baby“, die Vesperkirche, nach 14 Jahren hat. Es waren auch Begegnungen wie die mit einer Frau, die mit ihrem dementen Mann in die Vesperkirche kam, weil dort niemand komisch guckte, wenn er kleckerte. „Hier geht das. Im Restaurant nicht mehr“, habe die Frau gesagt, erinnert sich Albrecht. Der evangelische Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl formuliert es am Sonntag beim Final- Gottesdienst so: „Abschätzige Blicke haben hier keinen Raum. Hier herrscht ein freundliches, respektvolles Miteinander auf Augenhöhe von Menschen unterschiedlicher Herkunft mit verschiedenen An- und Aussichten.“ Das sei stilprägend für die Gesamtgesellschaft. Der Bischof spricht von „einem wunderbar vorbildlichen Projekt“, bei dem in ökumenischer und kommunaler Kooperation ein Kirchenraum zu einer Adresse der Hoffnung geworden sei.

Zusammen angefangen, zusammen aufgehört

Dass das „Baby“ Vesperkirche so gut gediehen ist, daran haben Gisela Vogt und Bärbel Albrecht elementaren Anteil. Und den herangewachsenen Schützling jetzt ziehen zu lassen, fällt den Leiterinnen nicht leicht. Doch Gisela Vogt geht im Spätsommer in den Ruhestand. „Für mich war klar: Dann höre ich auch auf“, sagt Bärbel Albrecht. „Wir haben es so lange zusammen gemacht, dann hören wir auch zusammen auf.“ Sie wird sich im Kreisdiakonieverband verändern und wechselt von Ludwigsburg nach Ditzingen.

Organisationstalent, Geduld und gute Nerven, Pragmatismus, Humor und Improvisationsvermögen, dazu die Gabe, gut zuhören, schnell zu entscheiden und auch mal Klartext zu reden: Das machte das Zweier-Gespann aus, das einander für das Mammut-Projekt gut ergänzte. „Wir verstehen uns menschlich gut, hatten beide immer Lust auf neue Ideen und konnten uns gegenseitig auch in stressigen Momenten tragen“, beschreibt Bärbel Albrecht das Geheimnis des Erfolges. „Wenn eine mal eine Pause brauchte, sprang die andere ein, und wenn einem mal der Kragen platzte, was in hektischen Momenten passieren kann, dann hat man sich kurz den Kropf geleert und dann ging’s weiter.“ Gisela Vogt sagt: „Wir mussten einander nie etwas streitig machen und konnten sehr ehrlich miteinander umgehen.“ Vogt und Albrecht gelang es, einen Stamm von 600 Ehrenamtlichen aufzubauen, zu motivieren und bei der Stange zu halten, zudem enge Kontakte zu Sponsoren und Multiplikatoren zu knüpfen und zu pflegen. Und jedes Jahr den dreiwöchigen Ausnahmezustand zu bewältigen. „Die Vesperkirche war in 25 Jahren Friedenskirche mein schönstes Projekt. Ein Traum ist Wirklichkeit geworden“, sagt Gisela Vogt und verweist auf Helder Camaras Bonmot: „Wenn einer allein träumt, ist es nur ein Traum. Wenn viele gemeinsam träumen, ist es der Anfang einer neuen Wirklichkeit.“ Sie habe das Unmittelbare, nicht Ausgefeilte bei der Arbeit für das „Gasthaus auf Zeit“ geliebt, sagt sie. „Es war ein besonderes Geschenk. Das Beste, was wir als Kirche vor Ort von uns zeigen konnten.“

Ein Traum ist Wirklichkeit geworden

Dabei, so Bärbel Albrecht, habe man am Anfang überhaupt nicht einschätzen können, was auf einen zukomme und ob das Vorhaben sich etablieren werde. Doch es etablierte sich nicht nur, es ließ sogar Neues wie das Begegnungszentrum MIR für ukrainische Geflüchtete erwachsen, das ebenfalls Vesperkirchen-Helfer wuppten. „Die Vesperkirche ist wirklich ein ganz herausragendes Zeichen für den sozialen Zusammenhalt in Ludwigsburg“: So würdigt Oberbürgermeister Matthias Knecht das Wirken von Vogt und Albrecht beim Abschluss-Gottesdienst. Lachend ruft Kreisdiakonie-Geschäftsführer Martin Strecker anfängliche Bedenken in Erinnerung: von der Frage „Reicht nicht eine Vesperkirche in Stuttgart?“ über die Befürchtung „Was koschd des und wer zahlt das Defizit?“ bis hin zu Sorge hinsichtlich einer möglichen „Entprofessionalisierung der diakonischen Arbeit“.

„Welch ein Erfahrungsschatz wird da heute mit eurer Arbeit niedergelegt“, bedauert Kirchenpfleger Lothar Rücker. Während sich draußen vor der Tür schon die Schlange zum Einlass für den letzten Essens-Tag 2023 bildet, erheben sich drinnen in der Kirche die Gottesdienst-Besucher: Sie spenden Vogt und Albrecht stehenden Applaus.

Zusammen am Tisch und im Team

Die Vesperkirche
 Die Vesperkirche wird von der Diakonischen Bezirksstelle Ludwigsburg, von der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde Ludwigsburg und von vielen Ehrenamtlichen getragen und aus Spenden finanziert. Drei Wochen lang gibt es dank dieser Anstrengungen im Februar/März jedes Jahr für wenigstens 1,50 Euro ein Mittagessen mit Vorspeise, Getränk, dazu Kaffee und Kuchen. Im Helferpool sind fast 600 Bereitwillige registriert, rund 300 sind pro Vesperkirchenjahr im Einsatz.

Die Nachfolge
 Derzeit steht noch nicht fest, wer in Bärbel Albrechts und Gisela Vogts Fußstapfen tritt. Die Vesperkirche soll auf jeden Fall weiterleben.