Für sieben Wochen ist die Leonhardskirche jetzt wieder Vesperkirche – und gleich zum Start war der Andrang groß.

Jeden Tag eine warme Mahlzeit zu haben, das ist für viele Menschen Luxus. „Und wer von Armut betroffen ist, der ist jetzt Besonders in Bedrängnis“, stellte Diakoniepfarrerin Gabriele Ehrmann beim Eröffnungsgottesdienst in der Leonhardskirche fest, wobei sie darauf verwies, dass die Preissteigerung bei Lebensmitteln besonders hoch ist. Insofern sei die Vesperkirche auch „ein Zeichen der Solidarität, mit dem wir ein Licht anzünden, das hinaus strahlt in die ganze Stadt“. Als Mahnung rief Ehrmann auch einen Satz aus dem Alten Testament ins Gedächtnis: „Es soll unter Euch kein Armer sein.“ Beifall begleitete das Anzünden der traditionellen Vesperkirchen-Kerze, auf deren Motiv ein Regenbogen den Kirchturm überspannt: „Als Zeichen dafür, dass alle Menschen willkommen sind, gleich welcher Herkunft“, wie die Pfarrerin betonte.

 

Dass neben der leiblichen Stärkung auch ein Bedürfnis nach seelisch-geistlicher Nahrung besteht, zeigte sich auch darin, dass die Kirche schon vor der Essensausgabe voll besetzt war.

Für den feierlichen Rahmen sorgten die Stuttgarter Hymnuschorknaben mit so erhebenden wie erfrischenden weihnachtlichen Chorsätzen. Mit gespannter Aufmerksamkeit wurde auch die Predigt von Stadtdekan Søren Schwesig verfolgt, der eingangs bekannte, dass die Vesperkirche für ihn eine „zwiespältige Angelegenheit“ sei. Zum einen freue er sich, dass nun wieder „Essen, Gemeinschaft, Wärme, Beratung und vieles mehr“ vor Ort möglich sei. Zum anderen zeige die Vesperkirche aber auch, „dass wir es nicht schaffen, die Armut, diese uralte Geisel der Menschheit, zu beseitigen“.

Armut ist keine vorübergehende Erscheinung

Angesichts dieser Zwiespältigkeit nahm Schwesig die Jahreslosung der Evangelischen Kirche als Leitmotiv seiner Predigt: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Ein Wort, das ihm zu Herzen gehe, denn es bedeute, „dass man Menschen, zumal jene in Not, nicht übersieht, sondern dass man hinsieht und sich zuständig fühlt“. Jeder Mensch habe das Bedürfnis, gesehen zu werden, denn dies heiße, „dem Menschen einen Wert zuzusprechen, ihm Würde zu geben“. Ein Ansatz auch, um im größeren Rahmen „den Zirkel von Gewalt, von Elend und Verlorenheit zu durchbrechen“.

Veronika Kienzle, Bezirksvorsteherin von Stuttgart-Mitte, pries die Vesperkirche als „Ort der Begegnung“, auch als Zeichen, „als Gesellschaft der Vereinsamung entgegenzutreten“. Zugleich betonte sie, dass „Armut leider keine vorübergehende Erscheinung“ sei, dass „lange Schlangen von Menschen, die im Regen vor Tafelläden warten, nicht als Normalität hingenommen werden dürfen“. Deshalb brauche es, über die saisonale Vesperkirche hinaus, „in der Stadt feste Strukturen, die das Thema an angenehmen Orten in unsere Mitte nehmen“.

Rund 600 Portionen wurden vorbereitet

Da zum Start der Essensausgabe bereits rund 200 Personen präsent waren, hatte die Schar der Helferinnen und Helfer von Beginn an alle Hände voll zu tun, um die Wartenden an den Tischen mit Essen zu versorgen. Zum Auftakt wahlweise gewürfelten Schweinhals oder Gemüsegulasch mit Knöpfle, wovon rund 600 Portionen vorbereitet waren. Andreas (43) fiel das Warten aber leicht. Er kennt die Vesperkirche seit vielen Jahren: „Logisch, wenn man knapp bei Kasse ist, dann ist man froh, dass es das gibt!“ Hilde (87), hat es „nicht so nötig“ und ist vor allem wegen der Hymnuschorknaben gekommen: „Jetzt spare ich mir für heute auch das Kochen“, schmunzelt sie. Für Mechtild (56) aber ist es „im Moment existenziell“, denn sie hat wegen einer Eigenbedarfskündigung ihre Wohnung verloren und braucht „jeden Cent“. Serpil (44) wiederum hatte sich gerade in einer Unterführung zum Betteln platziert, wo sie auf die Vesperkirche hingewiesen wurde: „Etwas Besseres konnte mir heute nicht passieren.“ Nun hat sie sich einen Kaffee besorgt und will noch „ein bisschen im Warmen und unter Leuten sein“. Doch nicht nur drinnen herrschte rege Nachfrage, auch am Schalter, an dem Speisen mitgenommen werden können, wurden nach einer Stunde schon über 50 Portionen geordert.