Der VfB Stuttgart tritt am Sonntag beim FC Erzgebirge Aue an. Doch rund um den Club, der für viele die tiefste Fußball-Provinz verkörpert, ist man selbstbewusst.

Aue - Eine Armee an Räuchermännchen qualmt in von Kerzenschein erleuchteten Marktbuden neben schnauzbärtigen Nussknackern, Holzengeln und bunten Bergmännern mit Grubenlampe. „Das Thema Weihnachten“, sagt der ehemalige Profiboxer Markus Beyer zu dem traditionellem Handwerk auf dem „Raachermannelmarkt“ in Aue, „wird hier um einiges höher gehängt als anderswo.“ Hier, das sind die Hügel und Täler des Erzgebirges, wo der einstige WBC-Champion im Supermittelgewicht aus Erlabrunn auch nach Karriereende noch eine der wenigen Sportlerpersönlichkeiten ist.

 

Gut zehn Kilometer nördlich von Erlabrunn liegt Aue, eine Große und mit lediglich 16 349 Einwohnern doch kleine Kreisstadt. „Wir sind das Schalke des Osten. Am Selbstbewusstsein scheitert es bei uns nicht“, sagt der umtriebige Oberbürgermeister Heinrich Kohl (CDU) über seine Stadt mit dem Fixpunkt FC Erzgebirge, dem selbst ernannten „Kumpelverein“. Wie einst der SV Meppen aus dem Emsland gilt der Zweitligist aus Aue aber dennoch für viele als Sinnbild für die Fußball-Provinz. Der VfB-Manager Jan Schindelmeister, der mit den Stuttgartern am Sonntag (13.30 Uhr) seine Visitenkarte im Grenzgebiet zu Tschechien abgibt, spricht schon jetzt von einem „Schweinespiel“. Denn große Lorbeeren, das weiß Schindelmeiser, die gibt es in Aue nicht zu erwerben.

Auch der Boxer Markus Beyer ist im Stadion

Beim Anpfiff wird auch Markus Beyer seinen Sitzplatz eingenommen haben. Weil der Boxer immer kommt, wenn er Zeit hat, und weil beim Gastspiel des Zweitliga-Zweiten VfB am zweiten Advent auch ein bisschen fußballerisches Erstliga-Flair durch das kleine, im Umbau befindliche Erzgebirgsstadion wehen wird. Mit 29 Jahren ist Markus Beyer 1999 in den britischen West Midlands als dritter deutscher Boxer nach Max Schmeling und Ralf Rocchigiani im Ausland Weltmeister im Boxen geworden. Er hat an der Seite seiner Ex-Frau Danii Haak, die mit dem Trio „Mr. President“ in den 90er Jahren die Charts stürmte, später in Köln, Berlin und Bremen gewohnt. Nach der Scheidung ist er wieder zurückgekehrt ins Erzgebirge, nahe Schwarzenberg wohnt er nun mit seinem Hund ziemlich abgeschieden in einem Haus auf einer Anhöhe und sagt: „Heimat ist eben Heimat“.

Wie viele in der Region ist auch Markus Beyer Mitglied beim FC Erzgebirge – und sagt zu dem Saisonverlauf des Zweitliga-Aufsteigers von Trainer Pavel Dotchev, einem ehemaligen bulgarischen Nationalspieler: „Oft war die Mannschaft spielerisch besser – es fehlte nur das Quäntchen Glück.“ Denn aktuell sind die Sachsen Vorletzter im Bundesliga-Unterhaus, es droht am Zusammenfluss von Zwickauer Mulde und dem Flüsschen Schwarzwasser, inmitten einer verträumten Mittelgebirgslandschaft, der erneute Gang in die dritte Liga.

Das Club-Logo ziert die Waffe des Biathleten Erik Lesser

Zwar jubelt man rund um Aue auch Erik Lesser zu, dem zweimaligen Biathlon-Weltmeister, dessen Waffe das lila-weiße Logo des Clubs mit gekreuzten Hämmern ziert. Doch ansonsten hat auch an der Grenze zu Böhmen der Fußball das Kommando übernommen. Also hat der Faustkämpfer Beyer Anfang November auf Anfrage des Clubs vorbei geschaut im Kreise der Fußballspieler um den derzeit verletzten Torhüter und Kapitän Martin Männel, um seinen Stellvertreter, den Ex-Stuttgarter Christian Tiffert oder den Torjäger Pascal Köpke (sieben Saisontore). Ein Boxtraining mit Konditions- und Pratzenarbeit hat der ehemalige Rechtsausleger mit den Fußballern durchgezogen. „Wenn ich zu ein bisschen mehr Stabilität innerhalb der Mannschaft beitragen kann“, sagt Markus Beyer: „Dann helfe ich gerne.“

Den Veilchen vom FCE in ihrem lila Heimdress ein bisschen unter die Arme greifen, mehr wollte auch Christian Tiffert ursprünglich nicht. Mit mehr als 200 Erstligaeinsätzen, zahlreichen Zweitligaspielen sowie Auslandserfahrung in Österreich und den USA ist der 34-Jährige, der zwischen 2000 und 2006 noch mit Akteuren wie Timo Hildebrand, Markus Babbel oder Mario Gomez für den VfB spielte, der mit Abstand erfahrenste Akteur im Team aus Aue. „Eigentlich hatte ich meine Karriere nach Bochum ja schon beendet“, sagt Tiffert, der dann aber nach einem Jahr Pause im Sommer 2015 dem damaligen Drittligisten und Absteiger prompt zusagte.

„Dabei ging es mir nicht ums Geld, denn da müssen wir in einer wirtschaftlich schwachen Region extrem kleine Brötchen backen“, erzählt der Mittelfeldmann, den sie einst in Kaiserslautern den „Mann mit dem Risikopass“ tauften. „Ich bin ja immerhin kein typischer 34-Jähriger“, ergänzt Tiffert: „Denn ich war in meiner ganzen Karriere noch nicht einmal verletzt.“ Ziemlich überraschend sei der Aufstieg für den ehemaligen DDR-Club FC Wismut in der Vorsaison allerdings gekommen, mit Spielern nämlich, die größtenteils noch nicht mal Erfahrung in der dritten Liga besaßen. Logisch also, sagt der „Tiffi“, dass es nun an Zweitliga-Routine fehle.

Der „Ossi“ Christian Tiffert fühlt sich wohl in Aue

„Da stehen sich am Sonntag zwei komplett unterschiedliche Clubs gegenüber“, erklärt Tiffert das anstehende Duell David FCE gegen Goliath VfB. Doch der Mittelfeldmann („Ich komme aus Halle an der Saale, bin also Ossi“) fühlt sich im Erzgebirge mit der Ehefrau und den Kindern Mila und Liam pudelwohl. „Hier gibt es ja kaum einen, der sich nicht für den Verein interessiert“, sagt der Interims-Kapitän eines Clubs, der stolz auf das bald neue Stadion, den Mitgliederzuwachs und das clubeigene Sportinternat ist.

Doch es gibt auch Risse in der heilen Welt: Bei der fünfstündigen Vereins-Versammlung am vergangenen Samstag rumpelte es gewaltig, als man dem Vereinsboss Helge Leonhardt und seinem im Aufsichtsrat sitzenden Bruder Uwe sowie dem als Ehrenrat tätigen Cousin Wolfgang „üble Vetternwirtschaft“ vorwarf. Einige an der Clubspitze schmissen daraufhin ihr Ämter hin. Doch die Leonhardts blieben.

Tomislav Stipic lässt auf die Bosse sowieso nichts kommen. „Sie sind nicht nur eine große Stütze und die Seele des Vereins, sie sind unentbehrlich“, sagt der ehemalige Coach der Stuttgarter Kickers. 2014/15 trainierte er den FC Erzgebirge. „Aue ist speziell. Fußball ist hier eine Religion“, sagt Stipic. „Viele Menschen arbeiten in ganz Deutschland. Wenn sie am Wochenende heimkommen, verbringen sie nicht die Zeit bei der Familie, sondern im Stadion.“ Mit harter Arbeit, Leidenschaft und Hingabe lasse sich in dieser Region Euphorie entfachen. Das passte zum emotionalen Naturell des gebürtigen Bosniers. „Ich habe die Zeit dort sehr genossen“, schwärmt er.

Der VfB ist also gewarnt, denn es geht zuweilen heißblütig zu im Erzgebirge. Das weiß auch Runar Sigtryggsson. Der aktuelle Trainer des Handball-Bundesligisten HBW Balingen-Weilstetten trainierte vier Jahre lang die Zweitliga-Handballer des EHV Aue, sein Sohn und sein Bruder spielen immer noch dort. „Viele Menschen ziehen aus dieser strukturschwachen Region weg, doch der Zusammenhalt derer, die hier bleiben, ist wahnsinnig groß“, sagt der Isländer. Die Fußballer und Handballer werden hoch emotional unterstützt. „Man steht geschlossen hinter seiner Mannschaft, die eigenen Leute werden immer geschützt, das bekommt erst das gegnerische Team zu spüren, und im zweiten Schritt meistens die Schiedsrichter.“

Die Treue zum Verein geht laut Sigtryggsson sogar so weit, dass die Zuschauer erst recht dann ins Stadion kommen, wenn es schlecht läuft: „Man könnte fast meinen“, sagt Runar Sigtryggsson vor dem sonntäglichen Höhepunkt im Land der Räuchermännchen: „dass die Leute mehr Spaß an einer Krise haben, als am Erfolg.“