Das 2:0 gegen Hertha BSC war der fünfte VfB-Sieg nacheinander. Erstmals seit Jahren werden die Stuttgarter nun nicht mehr von akuten Abstiegssorgen geplagt. Der Blick könnte sogar nach oben gehen – doch das verbietet sich der VfB.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Christian Gentner ist schon lange das Gesicht des VfB. Und an diesem Gesicht waren die Anspannung und die Enttäuschungen der vergangenen Bundesligajahre immer besonders deutlich abzulesen. Kein anderer Stuttgarter Spieler identifiziert sich so sehr mit diesem Club und hat deshalb auch so gelitten wie der Kapitän. Sowohl die Abstiegsangst als auch die Entschlossenheit, den Absturz in die Zweitklassigkeit zu verhindern, waren ihm eigentlich immer anzusehen. Seit seiner Rückkehr aus Wolfsburg 2010 geht es für Christian Gentner praktisch ohne Unterbrechung um das Überleben in Liga eins. Die Extremsituation als Dauerzustand, der Stress als ständiger Begleiter.

 

Und plötzlich ist alles ganz anders.

Jetzt bloß keine Überheblichkeit

Mit einem entspannten Lächeln tritt Christian Gentner nach dem 2:0-Sieg über Hertha BSC vor die Journalisten. Und weil der 30-Jährige nicht nur das Gesicht der Mannschaft ist, sondern auch deren vernünftige Stimme, hören alle genau hin, als er sagt: „Wir agieren jetzt aus einer ganz anderen Position heraus, wir haben nicht mehr diesen brutalen Druck. Wir können jetzt befreit ins Stadion fahren, weil wir nicht mehr unter allen Umständen punkten müssen.“ Da Christian Gentner sagt, was an diesem Samstag alle beim VfB denken, sind seine Sätze so etwas wie ein großes kollektives Aufatmen. Der Abstiegskampf findet in dieser Saison erstmals seit der Spielzeit 2011/2012 ohne den VfB statt. Das sagt natürlich niemand in dieser Deutlichkeit, weil sich keiner dem Verdacht der Überheblichkeit aussetzen will.

Euphorischeres als ein „Es sieht jetzt wirklich gut aus für uns“ aus dem Mund von Daniel Schwaab ist nicht zu vernehmen. Der Innenverteidiger sagt dann noch: „Es macht uns einfach Spaß.“

Trainer Jürgen Kramny wird mit jedem Sieg lockerer

Den Zuschauern auch. Dem 2:0 über Hertha BSC war nämlich wieder eine ganz starke Stuttgarter Leistung vorausgegangen. Und so wie nach den Toren von Serey Dié (51. Minute) und Filip Kostic (84.) in der Schlussphase noch auf einen weiteren Treffer gedrungen wurde, deutet nichts darauf hin, dass der VfB in den nächsten Spielen die Leidenschaft vermissen lassen könnte. „Wir wollen noch so viel wie möglich aus diesem Lauf herausholen und unsere Serie ausbauen“, sagt Jürgen Kramny, den man guten Gewissens als Erfolgstrainer bezeichnen kann. Und der wird mit jedem Sieg immer lockerer. „17 Punkte am Stück ist eine ganz gute Quote. Das kann so weitergehen“, sagt er zu seiner Bilanz nach der Einstandsniederlage bei Borussia Dortmund am 29. November und vor der nächsten Partie am Sonntag auf Schalke.

Unter Jürgen Kramny ist der VfB zum Seriensieger geworden. Der Erfolg über die Champions-League-ambitionierten Berliner war der fünfte Sieg nacheinander, das hat es zum letzten Mal unter Christian Gross im Jahr 2010 gegeben. Vom Abstiegskandidaten hat sich der VfB nach der Winterpause in Turbogeschwindigkeit zur erfolgreichsten Mannschaft der Rückrunde entwickelt, die jetzt auf Platz zehn steht.

Das Niemandsland der Tabelle ist für den VfB zurzeit das Fußball-Paradies.

Robin Dutt empfiehlt, „die Gegenwart zu genießen“

Von der Europa League will Robin Dutt deshalb nichts hören. „Lasst uns doch die Gegenwart genießen und keine Sprüche raushauen. Es ist auch mal sehr schön, dazwischen zu stehen“, sagt der VfB-Sportvorstand, für den es völlig ungewohnt ist, nicht vom Abstieg bedroht zu sein. Das neue Gefühl wird Dutt in den nächsten drei Tagen auf der Skipiste und in der Sauna ausleben.

Der Kurzurlaub des Managers läutet eine stressfreie Phase beim VfB ein. Jürgen Kramny sei Dank. „Es macht viel Spaß, mit ihm zusammenzuarbeiten“, sagt Daniel Schwaab. „Er ist keine Spaßbremse und findet die richtigen Worte.“ Und die richtige Spielweise noch dazu.

Auf die Abwehr und Torwart Tyton ist Verlass

Der Sieg über gute und immer gefährliche Berliner war die reifste Leistung des VfB in dieser Saison. Das Stuttgarter Spiel war bestens organisiert. Im kompakten Kramny-System kommen die Innenverteidiger nicht mehr ständig in die unangenehmen Eins-gegen-eins-Situationen. „Wir haben jetzt viel mehr Ballbesitz als früher und deshalb hinten die Zeit, uns zu organisieren“, erklärt Daniel Schwaab. Wenn doch etwas anbrennt, ist auf den Torhüter Przemyslaw Tyton Verlass, der mit einer Großtat gegen den Ex-VfBler Vedad Ibisevic sein Team im Spiel hielt (37.).

Zur Offensivphilosophie von Jürgen Kramny gehört das frühe Angreifen des Gegners, das er aber nicht wie sein erfolgloser Vorgänger Alexander Zorniger zum Prinzip erhebt. Ein punktuelles Pressing lässt Kramny spielen – dann, wenn die realistische Chance auf einen Ballgewinn besteht. So wie vor dem entscheidenden Tor von Filip Kostic, als zuvor schon der Berliner Torwart Rune Jarstein attackiert und zu einem unsauberen Pass genötigt wurde. Die Folgen: das 2:0 – und das ganz große Aufatmen beim VfB.