Sportpsychologe zur Situation des VfB Stuttgart Die Angst vor der Angst nach einem 0:1-Rückstand

Nur einmal hat der VfB Stuttgart in dieser Saison nach einem 0:1-Rückstand noch gepunktet – ansonsten war das erste Gegentor gleichbedeutend mit einer Niederlage. Der Sportpsychologe Werner Mickler erklärt, wie sich besser mit dem Negativerlebnis umgehen lässt.
Stuttgart - Der alte Spruch „Wer 1:0 führt, der stets verliert“ ist schlichtweg falsch. Es muss stattdessen heißen: Wer 1:0 führt, der meist gewinnt. Denn seit der Einführung der Fußball-Bundesliga im Jahr 1963 liegt die Siegquote nach einer 1:0-Führung bei mehr als 65 Prozent.
Besonders entscheidend ist der erste Treffer in dieser Saison beim VfB Stuttgart. Abgesehen von der Nullnummer gegen Fortuna Düsseldorf fiel in allen Begegnungen mit Beteiligung des Tabellen-16. mindestens ein Tor. Die Mannschaft, die dabei zuerst traf, setzte sich in zwölf von 13 Fällen durch – nur dreimal war das der VfB. Die Ausnahme bildete das 3:3 am dritten Spieltag beim SC Freiburg, ansonsten war für die Stuttgarter ein 0:1-Rückstand stets gleichbedeutend mit einer Niederlage.
Die Moral sinkt, die Gegenwehr lässt nach
Das jüngste Spiel bei Borussia Mönchengladbach lieferte ein besonders gutes Beispiel: Mit dem Gegentor zum 0:1 von Raffael in der 69. Minute war die Partie aus Stuttgarter Sicht gelaufen. Für Gladbach war es der Türöffner, die Gastgeber hatten danach leichtes Spiel, zwei weitere Treffer nachzulegen. Für den VfB dagegen war es wieder einmal einer dieser negativen Momente, die alles verändern. Die Moral sinkt, die Gegenwehr lässt nach; Absacken statt aufbäumen. „Wenn man das schon mehrmals erlebt hat, kann man Angst vor der Angst bekommen: Hoffentlich geht das heute nicht wieder schief wie beim letzten Mal“, sagt der Sportpsychologe Werner Mickler, der in der Trainerausbildung des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) tätig ist.
Es ist ein Muster, dass sich durch diese VfB-Saison zieht. „Wir müssen daran arbeiten, dass ein 0:1 nicht gleich eine Niederlage bedeutet“, sagt der Mittelfeldspieler Dennis Aogo, der nach seiner frühen Auswechslung in Gladbach wegen Wadenproblemen hofft, bis zum Heimspiel am Samstag (15.30 Uhr) gegen Hertha BSC wieder fit zu sein. „Wir dürfen nicht in unsere Köpfe reinkriegen, dass das Spiel verloren ist, wenn wir ein Tor kassieren.“
Ein Plan B fehlt
Wenn das bessere Team erst einmal führt, ist es freilich höchstwahrscheinlich, dass das bessere Team auch gewinnt. Beim abstiegsbedrohten VfB bleibt nach einem Rückstand ein Jetzt-erst-recht-Effekt meist aus – es setzt vielmehr ein Jetzt-ist’s-vorbei-Effekt ein. „Es kann immer etwas Unvorhergesehenes passieren oder ein Plan nicht aufgehen. Da muss ich als Spieler etwas haben, an dem ich mich festhalten kann. Man braucht einen Plan B oder sogar Plan C“, sagt der Sportpsychologe Werner Mickler.
Mit einem Gegentor geht beim VfB prompt die Stabilität verloren und offenbar auch der Glaube an einen Punktgewinn. Die Stuttgarter vermögen das Ruder nicht mehr herumzureißen und ergeben sich zumeist ihrem Schicksal. Weil sie wissen, dass ihnen die Mittel fehlen, um einen Gegner richtig unter Druck zu setzen? Es ist beim VfB ganz sicher kein rein psychologisches Problem, sondern auch ein fußballerisches. Wer kein Tor schießt, verliert mit 73-prozentiger Wahrscheinlichkeit, das besagt ein Blick in die Bundesliga-Historie. In neun von 14 Spielen in dieser Saison blieben die Stuttgarter ohne Treffer. „Es ist wichtig, dass man im Training Situationen schafft, in denen Rückstände aufgeholt werden müssen. Wenn das geübt wurde, können die Spieler im Ernstfall besser damit umgehen“, sagt Werner Mickler.
Noch drei Spiele bis Weihnachten
Alle Beteiligten beim VfB sind bemüht, den Blick nach vorne zu richten und das erneute Negativerlebnis in Mönchengladbach schnell abzustreifen. „Wichtig ist für uns: Von den nächsten drei Spielen sind zwei vor eigenem Publikum, das stimmt positiv. Das sind Gegner, gegen die wir definitiv punkten können“, sagt Dennis Aogo mit Blick auf die Partien bis Weihnachten gegen Hertha BSC, beim VfL Wolfsburg und gegen Schalke 04. „Ich habe schon viele solcher Situationen wie jetzt erlebt, in denen man das nächste Spiel dann gewinnt. Es geht wieder bei 0:0 los.“
Fragt sich nur, wer am Samstag das 1:0 schießt? Wobei die Statistik für den VfB spricht: In der Bundesliga-Geschichte wurden 51 Prozent aller Heimspiele gewonnen, 70 Prozent aller Teams sicherten sich bei Heimauftritten mindestens einen Punkt.
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