Die Fans leiden seit Saisonbeginn mit dem VfB Stuttgart. Wie sehr zeigt ein Besuch in der Cannstatter Kurve. Joachim Schmid, den Vorsitzenden des Fanclubs Rot-Weiße Schwaben Berkheim, hat diese Saison besonders viele Nerven gekostet.

Stuttgart - Auf den ersten Blick wirkt Joachim Schmid an diesem Samstagnachmittag fröhlich und ausgelassen – eigentlich erstaunlich beim Blick auf die Tabelle der Bundesliga. Der VfB Stuttgart liegt auf dem letzten Platz. Es sind noch drei Spiele bis zum Ende der Saison. Doch der erste Vorsitzende des Fanclubs Rot-Weiße Schwaben Berkheim (RWS) hat mit seinem VfB schon einiges erlebt. Seit den späten 1970er Jahren gehört er zum Fanclub – seit 1993 ist er Vorsitzender.

 

„So viele Nerven wie dieses Jahr hat mich der VfB noch nie gekostet“, sagt Schmid auf dem Weg ins Stadion. Im Gespräch ist ihm die Anspannung dann auch deutlich anzumerken. „Wenn wir heute verlieren“, sagt er mit dünner Stimme, „dann war’s das wohl.“ Josef Weber ist ebenfalls Mitglied im RWS Berkheim. Er ist am Samstag mit seinem achtjährigen Enkel Jaden ins Stadion gekommen. „Der Junge ist schon seit 6 Uhr am Morgen wach, weil er so aufgeregt ist wegen des Spiels“, erzählt der Großvater.

Der Achtjährige ist ein glühender Anhänger des VfB Stuttgart. „In der Schule spielen sie immer Fußball“, erzählt der Großvater. Dabei ist eine Mannschaft immer der VfB, die anderen spielen als Bayern München. „Für Jaden ist es immer die Höchststrafe, wenn er bei den Bayern spielen muss“, erzählt Weber. Jaden selbst ist zu aufgeregt, um viel zu erzählen, und drängt ins Stadion.

Treffpunkt Cannstatter Kurve

Jaden und Opa Josef peilen zur Sicherheit die Sitzplätze auf den oberen Rängen an, der Fanclub-Chef und seine Frau haben ihren Stammplatz auf den Stehplätzen. Der Treffpunkt des RWS Berkheim ist die Cannstatter Kurve – nah genug an der Mitte, um die Stimmung und das Treiben der Ultras mitzuerleben, weit genug auf der Seite, um trotz meterhoher Fahnen noch etwas vom Spiel sehen zu können.

In der Kurve sieht Schmid bei den Heimspielen immer die selben Gesichter. Man begrüßt sich und fachsimpelt. Der Fanclub hat mehr als 1000 Mitglieder. Viele von ihnen sind Stammgäste im Stadion. Doch für einen ist es das erste Heimspiel der Saison. „Peter lebt im Winter in Uruguay“, berichtet der Vorsitzende, nachdem er einen Freund besonders innig begrüßt hat. „Zwei Tage vor dem Spiel gegen Schalke ist er in Deutschland angekommen“, erzählt Joachim Schmid. Natürlich ist er sofort mitgefahren nach Gelsenkirchen.

Zum Anpfiff wird es laut in der Kurve. Die Ultras schwenken ihre Fahnen und stimmen die einstudierten Chorgesänge an. Fünf Anheizer stehen mit dem Gesicht zu den Fans, haben Mikrofone oder Megafone in der Hand und geben den Takt vor. Derweil wird Joachim Schmid immer einsilbiger. Seine Gelassenheit ist verflogen und sichtbarer Anspannung gewichen. „Ich bin während der Spiele immer zu aufgeregt, um mitzujubeln oder mich richtig zu freuen“, erzählt der Fanclub-Chef, der im richtigen Leben als Polizist arbeitet.

Veränderung der Fankultur

Mit einer Niederlage wäre der Abstieg des VfB in die Zweite Liga so gut wie besiegelt. Die Gesänge sind sowohl Motivation für die Spieler als auch gegenseitiger Zuspruch für die Fans. „Kommt schon Jungs, das wird schon“, ist nicht ohne Grund das Lied, das in der ersten Halbzeit in der Cannstatter Kurve oft gesungen wird. Als der Ball im Mittelfeld hin und her geschoben wird, entspannt sich Joachim Schmid kurz und kommt ein wenig ins Erzählen. „Die Fankultur hat sich verändert“, sagt er. „Früher hat es keine Anheizer unter den Fans gebraucht. Da hat einer angefangen zu singen und die anderen, die haben einfach mitgemacht. Das war spontaner“, erinnert er sich. „Heute warten alle auf die Anheizer und schauen einen komisch an, wenn man spontan einen Gesang anstimmt.“

Je länger das Spiel dauert, desto tiefer werden die Sorgenfalten auf der Stirn von Joachim Schmid. Ihm ist klar: „Alles außer einem Sieg und wir sind weg.“ Als dann die beiden Tore für den VfB fallen, brechen in der Cannstatter Kurve sämtliche Dämme. Volle Plastikbecher fliegen durch die Luft, der laute Jubel klingelt in den Ohren, alles fällt sich in die Arme. Aus „Jungs, das wird schon“ ist ein stolzes „Wir werden niemals untergehen“ geworden.

Mitfiebern bis zum Schluss

Joachim Schmid aber fiebert bis zum Schluss mit. Selbst als die größten Skeptiker unter den Fans den Sieg schon als sicher verbucht haben, schaut er noch bei jeder Aktion auf dem Spielfeld genau hin. Nach dem Schlusspfiff sucht er als erstes seine Frau auf, die während des Spiels einige Meter von ihm entfernt gestanden ist.

„Der Patient lebt noch“, kommentiert Peter das erste Heimspiel nach seiner Rückkehr aus Uruguay, und Joachim Schmid fügt an: „Nächste Woche geht das Zittern weiter.“ Während um den Fanclub-Chef herum ausgelassen gefeiert wird, wirkt Schmid ruhig und in sich gekehrt. „Die Gefühle kommen bei mir erst später raus“, sagt er. Nach der Niederlage gegen Schalke habe er eine ganze Weile keinen Ton rausgebracht. „Und so richtig jubeln werde ich heute wohl auch erst zu Hause.“