Für viele der rund 300.000 Schwaben in Berlin ist das VfB-Abstiegsfinale bei Union ein doppelt emotionales Ereignis. Eine Spurensuche zur Stimmungslage kurz vor dem Relegationsrückspiel.

Stuttgart - Mit den Jahren ist Berlin für Simon Beyme, der ursprünglich aus Ravensburg stimmt, immer mehr zur Heimat geworden – auch fußballerisch. Der 44-jährige Rechtsanwalt ist jahrelang ein eingefleischter „Roter“ und im Jahr 2008 sogar Gründungsmitglied des VfB-Hauptstadt-Fanclubs „Cannstatter Kurve Berlin“ gewesen. An diesem Montag aber drückt er Union Berlin die Daumen. „Da spielt die alte Liebe gegen die neue Liebe“, meint er mit Blick auf das Relegations-Rückspiel im Stadion an der Alten Försterei im Bezirk Köpenick, das „in Hörweite“ seiner Wohnung liegt. Das VfB-Spiel bei Union in der Zweitligasaison 2016/2017 gab den Ausschlag: Beyme stand im Gästeblock, der „Scheiß Berlin“ skandierte – und der Berliner Schwabe, der sich plötzlich unwohl fühlte, wechselte die Seiten.

 

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Geschätzt rund 300.000 Schwaben leben in Berlin. Von denjenigen unter ihnen, die sich für Fußball interessieren, halten natürlich die meisten auch in schwerer Zeit zum VfB. Zugleich findet sich kaum jemand, der schlecht über die „Eisernen“ spräche. Die Fankultur in Köpenick sucht ihresgleichen, bei der Renovierung des Stadions an der Spree haben die Unterstützer selbst kräftig Hand angelegt, legendär ist das Weihnachtsliedersingen im „eisernen Wohnzimmer“ aus 28.000 Kehlen – dann werden noch 6000 Karten mehr unters Volks gebracht als bei den stets ausverkauften Fußballspielen.

Berliner VfB-Fans finden Union sympathisch

Gerade Berliner VfB-Fans finden Union auch deshalb sympathischer als den Hauptstadt-Platzhirschen Hertha BSC, der eine blaue Fanfreundschaft mit dem Karlsruher SC unterhält – nach dem Motto „Der Freund meines Feindes ist auch mein Feind“. Hinzu kommt, dass Union mit Stuttgart die Vereinsfarbe teilt. „Mit dem roten VfB-Schal“, meint Daniel Somfleth, aufgewachsen in Herrenberg und seit weit mehr als zehn Jahren in Berlin lebend, „fällt man gar nicht groß auf.“ Zum Untertauchen oder Leugnen einer südwestlichen Herkunft oder Fußballvorliebe sieht das Vorstandsmitglied des Berliner VfB-Fanclubs keinen Anlass: „Das mit dem Schwabenhass ist doch ein Klischee-Ding geworden.“

Lesen Sie hier: Warum der VfB die Klasse hält – oder eben nicht.

Längst vorüber scheint jedenfalls der Höhepunkt, als „Tötet Schwaben“ auf Hauswänden in Prenzlauer Berg zu lesen war, Spätzle die Statue auf dem gentrifizierten Kollwitzplatz verunzierten oder 2011 gar „Schwabenhass“ als Motiv für das Anzünden eines im Hauseingang geparkten Kinderwagens angegeben wurde. Angesichts ständig steigender Mieten und des ständigen Zuzugs von zuletzt rund 40.000 Einwohnern pro Jahr steht das Synonym „Schwabe“ gleichwohl immer noch für eine Veränderung der Stadt, die längst nicht allen Berlinern gefällt. „Ich wohne in Prenzlauer Berg und erlebe die Freud- und Witzlosigkeit der hierher gezogenen Schwaben täglich“, schrieb Falk Neumann vergangenes Jahr dem Sender RBB. „Schaffe, schaffe, Wohnung in Berlin kaufe...“, ätzte an gleicher Stelle ein „Ur-Berliner“.

Schwäbisch-Berlinerische Frotzeleien

Anlass war eine eher humorlose Petition an den Berliner Senat, die sich gegen eine Werbekampagne der Verkehrsbetriebe zwei Jahre zuvor richtete. „Liebe Schwaben, wir bringen Euch gerne zum Flughafen“, war in Großbuchstaben auf Bussen zu lesen, während der Nachsatz „und auf Wunsch auch wieder zurück“ viel kleiner geschrieben war. Fast zeitgleich warben Berliner Lidl-Filialen mit dem Spruch „Mehr Freude an Schwaben“ für Maultaschen.

Nicht einmal mehr solche Marketingaktionen sind vor dem schwäbischen Gastspiel bei Union bekannt geworden. Es geht um Fußball, um erste oder zweite Bundesliga. Rund 2500 VfB-Fans werden in der Alten Försterei dabei sein, viele von ihnen wohnhaft in Berlin. Für sie geht es auch um die Rettung „ihres“ Heimspiels, den VfB in der eigenen Stadt erleben zu können. Deshalb haben sie im Vereinsheim „Rössle“ im Bezirk Neukölln auch Union die Daumen für Platz 2 in Liga 2 die Daumen gedrückt, die zum direkten Aufstieg ins Fußballoberhaus berechtigt hätte.

Pfiffe gegen das eigene Team gibt es bei Union nicht

Mit einem Erfolg gegen Paderborn hätten die Berliner Stuttgart-Fans in der nächsten Saison zwei „Heimspiele“ gehabt – eines gegen Hertha im Olympiastadion weit im Westen der Stadt, eines gegen Union ganz im Osten. Doch es kam anders, wie so oft in dieser Saison. „Jetzt laufen wir Gefahr, gar kein Heimspiel mehr zu haben“, sagt Daniel Somfleth nach dem bitteren Unentschieden im Hinspiel.

Simon Beyme jedenfalls weiß genau, was die Stuttgarter an der Spree erwartet: „Die Unionfans unterstützen ihre Mannschaft 90 Minuten lang bedingungslos, Pfiffe gegen das eigene Team habe ich noch nie gehört – in Stuttgart ist das nicht immer so.“