Der VfB Stuttgart steigt nicht ab. Und falls doch? In den 70ern ergab sich daraus die schwere, schöne Wiedergeburt - mittels Kaiserschnitt. Unser Kolumnist Oskar Beck erinnert sich an die Zeit von Gerhard Mayer-Vorfelder.

Stuttgart - Vor dem Herzschlagspiel gegen Eintracht Braunschweig fühlt sich jeder anständige VfB-Fan wie Tucholsky, als er dichtete: Ich sehe diesem Tag mit einigen vollen Hosen entgegen.

 

Sackweise erreichen uns Anfragen verzweifelter Fans, die um Rat flehen gegen ihre panische Angst, darunter sogar Psychiater wie Dr. Thomas M., ein gebürtiger Heslacher. Er praktiziert fernab im fränkischen Feucht, ist der treueste Dauerkartenabsitzer unter den VfB-Getreuen und vor allem mein treuester Leser, und er wollte dieser Tage auf Teufel komm raus wissen: „Kannst Du mir einen einzigen vernünftigen Grund aufzählen, der meine Zugfahrt noch rechtfertigen würde, 220 Kilometer hin, 220 Kilometer zurück?“

Mit der Selbsttherapie bekommt er seine Angstattacken nicht mehr geregelt, er schläft schlecht, büschelweise fallen ihm die Haare aus, der Angstschweiß perlt ihm von der Stirn, Klöße stecken ihm im Hals, er verweigert die Nahrungsaufnahme, und es ist höchste Zeit, ihm und allen VfB-Fans die Angst zu nehmen vor dem, was sie fälschlicher Weise für das Schlimmste halten – den Abstieg.

So mancher Abstieg ist ein Segen

In Wahrheit hat der VfB die besten Erfahrungen damit gemacht. Mitte der 70er ist ihm dieses große Glück schon einmal widerfahren, und die Überlebenden schwärmen noch heute davon. Als damaliger VfB-Jungreporter kann ich lückenlos belegen, dass so ein Abstieg ein Segen sein kann, und zwar in Form einer schmerzlich-schönen Wiedergeburt mittels Kaiserschnitt.

Wiederholt sich die Geschichte?

Wieder ist da beim VfB ein neuer Präsident, der einen Schnitt machen will. Diesmal heißt er Wahler, damals hieß er Mayer-Vorfelder – aber geerbt haben beide eine schier deckungsgleiche Situation: Der VfB-Karren steckt im Kompost. Damals war es so: Mayer-Vorfelders Vorgänger war der Großverleger Hans Weitpert. Man nannte ihn aufgrund seiner schillernden Haartracht „Lila Hans“, und unter seiner Führung gingen im Rahmen einer groß angelegten Verkaufsaktion so spielgestaltende Profis wie Köppel, Handschuh, Frank, Schwemmle und Haug verloren, oder Gilbert Gress, der französische Star. Was im Gegenzug geholt wurde, vertrug oft das Schnaufen nicht. In den Protokollen alter Vorstandssitzungen ist auch vermerkt, dass Weitpert zur Behebung der VfB-Abwehrschwäche das Präsidiumsmitglied Heinz Hübner, den er zum „Chefeinkäufer“ beförderte, mit der Suche nach einem „Librio“ betraute. Die Jahreshauptversammlung 1971 verblüffte Weitpert mit dem Satz: „Der Spieler Regitz ist ein guter Ersatzmann geworden.“ Bei Stars der Nationalmannschaft sorgte er ebenfalls für Furore, indem er Briefe versandte, in denen er den „lieben Herrn Höttges“ oder den „lieben Herrn Grabowski“ um Preisgabe ihrer finanziellen Vorstellungen bat, da der VfB an einer Verpflichtung interessiert sei.

Böse Zungen werden jetzt sagen, dass sich die ebenfalls oft verwegene und weder Kosten noch Mühe scheuende Aktivität der heutigen VfB-Abteilung „An- und Verkauf“ hinter der Transferpolitik von damals nicht verstecken muss – jedenfalls hat der junge und schnittige Reserveoffizier Mayer-Vorfelder, gedrillt im Fallschirmjägerbataillon 251 in Calw, jenem Elend im Frühjahr 1975 ein Ende gesetzt und in der „Nacht der langen Messer“ nach einer verbalen Saalschlacht die Macht übernommen, mit einer Putsch- und Sturmfrisur, die geprägt war von bedrohlich über die Ohren gefönten Herrenwinkern. Doch bevor MV seinen Neuaufbau starten konnte, stieg er erst einmal ab - und Unglückstrainer Albert Sing, der „eiserne Albert von der Alb“, empfahl ihm als Sofortmaßnahme deftig: „Clubräume ausschwefeln, Eiterbeulen ausdrücken“.

So ein Absturz ist teuer

Für die Umsetzung dieses anspruchsvollen Konzepts war die Stunde Null nicht die schlechteste – jedenfalls stieg der runderneuerte VfB zwei Jahre später wie Phönix aus der Asche. Muss also wieder ein Abstieg her? Papperlapapp, natürlich nicht. Vergessen Sie den üblen Scherz vom Anfang, keiner steigt mit einem fröhlichen Pfeifen auf den Lippen ab. Denn so ein Absturz kostet einen Haufen Geld, und deshalb versucht der Präsident Wahler jetzt akrobatisch, zwei Pferde mit einem Hintern zu reiten: Er will nicht absteigen – aber auch sein Wort halten.

Die Basisarbeit im eigenen VfB-Stall war einmal die Beste im Land, und dieser Rückweg muss wieder gefunden werden. Dafür ist Wahler angetreten, das hat er im Wahlkampf geschworen, und weil er kein Politiker ist, steht er dazu. Dieter Hoeneß, der VfB-Meistermanager von 92, hat es letzten Sonntag bei Sky gut gesagt: „Wenn Wahler seinen Trainer Schneider fallen lässt, wird er unglaubwürdig.“

Wahler kämpft. Und hofft. Wahrscheinlich faltet er sogar die schweißnassen Hände zum Gebet: Herr, wirf Punkte herunter! Denn wenn es auch gegen Braunschweig keine gibt, verlangen die Panisch-Depressiven vom Präsidenten vermutlich mit dem Schaum vor dem Mund, dass er Schneider durch die 150jährige Doppelretterlösung Rehhagel/Trapattoni ersetzt und mit dem VfB auf dem alten Weg weiterwurschtelt, konzeptlos, sinnlos, gedankenlos, orientierungslos. Notfalls, hat Dieter Hoeneß gesagt, muss der Neuaufbau halt in der zweiten Liga beginnen.

Feurige Freudenfeste und Wunderkerzen

Der Ulmer weiß, wovon er da spricht, er war damals in den 70ern dabei, als Schwabenpfeil hat er den hohen Scheitel hingehalten, wenn die Flanken von Hansi Müller vors Tor flogen. Die Zwei gehörten zu den ersten jungen Wilden des VfB, die anderen hießen Roleder, Martin, Elmer oder Förster, und an der Seitenlinie sprang Jürgen („Wundermann“) Sundermann den vierfachen Rittberger und fraß liegend das Gras – als junger, hungriger Trainer, der mit einer noch hungrigeren Mannschaft den stürmischsten VfB-Fußball aller Zeiten spielen ließ. Dem Aufstieg folgten alle vierzehn Tage feurige Freudenfeste, mit 55 000 Fans im Schnitt, die Wunderkerzen anzündeten. Auf Anhieb wurde der Aufsteiger VfB Vierter und im Jahr danach Vizemeister, und so weiter.

Diese Woche hat sich Jürgen Sundermann wieder gemeldet – als Schneider seine neue Chance bekam, sagte er: „Hervorragend.“

Der alte Wundermann hat keine Angst vor dem Abstieg und wird heute locker auf der Tribüne sitzen. Und auch Dr. Thomas M. kommt jetzt doch. Mein Psychiater hat noch nie einen Cowboy gesehen, der mit einem Arsch zwei Gäule reitet, und deshalb gestern mitgeteilt: „Ich nehme den üblichen Zug. Holst Du mich ab?“

Und wie. Der VfB braucht jetzt jeden Mann.