Wie kann in kürzester Zeit die eigentlich gefestigt wirkende Mannschaft des VfB Stuttgart völlig aus den Fugen geraten? Auf der Spur eines Phänomens.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Der Kiosk Schlagzeile ist eine wichtige Anlaufstelle im Stuttgarter Lehenviertel. Hier bringt der Inhaber Roland Weninger nicht nur Zeitungen, Tabak und das um die Ecke gebraute Zacke-Bier unter die Leute, sondern auch seine Einschätzung zur Lage beim VfB Stuttgart. Die holt sich manchmal sogar der Profi Andreas Beck ab, der ganz in der Nähe wohnt. Weninger, Typ kerniger Kumpel, ist Anhänger durch und durch. Er trägt die VfB-Tätowierung stolz auf dem Unterarm und gehört zum harten Kern des Fanclubs Friends Forever 1996.

 

Da macht man was mit. „So etwas wie in dieser Saison habe ich aber noch nie erlebt“, sagt Roland Weninger. „Nach der Vorbereitung waren sich doch alle einig, dass dem VfB eine gute Saison bevorsteht. Die Vereinsverantwortlichen, die Medien, die Fernsehexperten und selbst die notorischen Schwarzseher in unserem Fanclub waren optimistisch. Deshalb ist die Enttäuschung jetzt umso brutaler.“

Nichts passt zusammen

Der Kader des VfB war diesmal so früh zusammengestellt wie nie zuvor. Die Neuzugänge wurden allgemein als gut beurteilt. Und trotzdem passt in dieser Saison beim VfB hinten und vorne nichts zusammen. Gar nicht so einfach, sich darauf einen Reim zu machen.

Im Lauf der Jahre sind beim VfB schon viele Träume geplatzt, allerdings sehr selten mit einem so lauten Knall wie in dieser Saison. Als Tabellenletzter nach zehn Spieltagen tritt der VfB an diesem Samstag beim Aufsteiger in Nürnberg an. Dorthin begleiten die Mannschaft 10 000 Fans. Das ist dann auch so ein VfB-Phänomen. Je größer die Enttäuschung, desto mehr Unterstützung bekommt der Club, wie es auch schon in der Zweitligasaison 2016/2017 eindrucksvoll zu erleben war.

Die Fans sind vorsichtiger geworden

So einhellig wie die Beurteilungen über die Aussichten des VfB vor dieser Saison gewesen sind, fällt jetzt auch die Einschätzung über den weiteren Saisonverlauf aus. Eigentlich ist der Stuttgarter Kader viel zu stark für einen erneuten Abstieg. So sieht das auch Kiosk-Mann Weninger. Doch auch er ist nach den ganzen Rückschlägen vorsichtiger geworden.

Das hört sich so an: „Wir dürfen vor der Winterpause nicht den Anschluss verlieren und müssen im nächsten Jahr richtig angreifen.“ Dabei klammert er sich auch an die Hoffnung, dass der Trainer Markus Weinzierl bei seinen vorherigen Erstligastationen in Augsburg und auf Schalke auch mit mehreren Niederlagen gestartet ist, um danach in die Spur zu kommen. „Das ist dann vielleicht auch nachhaltiger“, sagt Weninger.

Ständige Personalwechsel

Das mit der Nachhaltigkeit ist beim VfB Stuttgart seit jeher so eine Sache. Die fehlende Kontinuität zieht sich seit vielen Jahren wie ein roter Faden durch den weiß-roten Verein. Karl Allgöwer hat sie als Grund für die regelmäßig wiederkehrenden Krisen erkannt. Die VfB-Ikone hat auch drei Säulen ausgemacht, die von alles entscheidender Bedeutung für einen Verein sind: Präsident, Trainer und Sportdirektor. „Wenn es auf diesen Positionen ständige Wechsel gibt wie beim VfB, dann fehlt automatisch die klare Linie.

Es werden immer andere Richtungen ausgegeben und neue Wege eingeschlagen“, sagt der Meister von 1984, der 2016 als offizieller VfB-Berater fungierte. Er habe vor zwei Jahren gefragt, warum ständig das Personal gewechselt werden müsse. „Eine Antwort habe ich nicht darauf bekommen“, sagt Allgöwer, der das Gefühl hatte, dass auf seine Meinung keinen gesteigerten Wert gelegt werde. Deshalb habe er sich auch schnell wieder verabschiedet.

Seit der letzten Meisterschaft 2007 hat es beim VfB 16 Trainerwechsel und vier Neubesetzungen des Sportvorstands gegeben, was innerhalb von elf Jahren vier Präsidenten zu verantworten hatten. Mit dieser unsteten Personalpolitik hat sich der Club angreifbar gemacht. Die ständige Unruhe scheint auch auf die Mannschaft abzufärben. Schließlich scheint es mittlerweile auch ein Gesetz zu geben, welches besagt, dass die Spieler nach einem Wechsel zum VfB prinzipiell schlechter werden.

Die Rollen sind nicht klar verteilt

Solche Gedanken macht sich auch der Ehren- und Meisterpräsident von 2007, Erwin Staudt. Zunächst sagt er aber: „Ich habe beim VfB noch keinen Verantwortlichen erlebt, der dem Verein schaden will.“ Bei der Krisenanalyse erinnert sich Staudt immer an die Worte des ehemaligen Kapitäns Zvonimir Soldo, der gesagt habe: „Präsi, schuld ist die Summe aus vielen Kleinigkeiten, die zusammen eine enorme Dimension bekommen.“

So gesehen dürfte ein wichtiges Puzzleteil beim VfB sein, dass die Rollen innerhalb des Teams nicht mehr klar verteilt sind. Von der Führungsspieler-Achse, bestehend aus Ron-Robert Zieler, Holger Badstuber, Christian Gentner und Mario Gomez, geht aufgrund einer grassierenden Formschwäche inklusive Fitnessproblemen keinerlei Stabilität aus. Dadurch gerät alles aus den Fugen.

Kritik zieht dabei besonders Holger Badstuber auf sich. Der Abwehrchef wollte den VfB eigentlich verlassen, um dann doch irgendwann einen gut dotierten neuen Vertrag in Stuttgart zu unterschreiben. Dazu kommt Badstubers dominantes Auftreten, das im Moment nicht durch eine entsprechende Leistung gedeckt ist.

Sündenbock und Heilsbringer

Diesem heiklen Thema geht der Trainer Markus Weinzierl auf der Pressekonferenz vor dem Spiel beim 1. FC Nürnberg so gut es geht aus dem Weg: „Alle Führungsspieler sind jetzt gefordert, die Routiniers müssen es richten.“ Sollte nach den 0:4-Pleiten gegen Dortmund und Hoffenheim sowie dem 0:3 gegen Frankfurt eine weitere Niederlage mit mehr als zwei Toren Unterschied folgen, wäre diese der schlechteste Vier-Spiele-Einstand eines Trainers in der Geschichte der Fußball-Bundesliga.

Ob er es denn bereue, den VfB übernommen zu haben, wird Markus Weinzierl gefragt. Seine Antwort ist kurz: „Nein.“ Markus Weinzierl will sich nicht aus der Reserve locken lassen, sondern Ruhe ausstrahlen. Die Mannschaft sorgt mit ihren Auftritten für genug Unruhe. Mit großem Unverständnis hat deshalb Präsident Wolfgang Dietrich auf die öffentliche Kritik von Aufsichtsratsmitglied Guido Buchwald reagiert, der Sportvorstand Michael Reschke für die Krise verantwortlich macht.

Klinsmann könnte zum VfB zurückkommen

„Es läuft beim VfB immer nach demselben Muster“, sagt der Fan Roland Weninger. „Man sucht sich in der Krise immer zwei Personen aus. Auf der einen Seite den Sündenbock und auf der anderen einen Heilsbringer.“ Diese Rollen würden im Moment Michael Reschke und Jürgen Klinsmann einnehmen. Klinsmann hatte jüngst in einem Interview mit unserer Zeitung sein Interesse an einer Aufgabe beim VfB bekundet.

In dieser angespannten Situation rächt sich natürlich auch die forsche Herangehensweise des Präsidenten. Dietrich hatte, beseelt vom allgemeinen vorsaisonalen Optimismus, den Fans in Aussicht gestellt, dass es der Anspruch des VfB sei, sich in absehbarer Zeit auf die Verfolgung der Bayern und von Borussia Dortmund zu machen. Stattdessen droht derzeit wieder die zweite Liga mit Derbys in Heidenheim und Sandhausen.

Keine Investition in Sicht

Und das, obwohl der VfB in der Sommerpause die Rekordsumme von 35 Millionen Euro in Neuzugänge investiert hat, was einen Großteil der Daimlerinvestition für Anteile an der ausgegliederten Profiabteilung (41,5 Millionen) verschlungen hat. Vom angekündigten Einsteig eines zweiten Investors beim VfB hat man schon seit längerer Zeit nichts mehr gehört.