Die Fußball-Fans sind das Kraftwerk im Stadion und elementarer Bestandteil der Boom-Branche Bundesliga. Deutschland wird um seine Stadionkultur beneidet. Ein Stimmungsbericht.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Es ist an diesem Abend nicht ganz so einfach, sich mit Joachim Schmid zu unterhalten. Joachim Schmid ist Vorsitzender der Rot-Weißen Schwaben Berkheim, das ist der mit mehr als 1000 Mitgliedern größte Fanclub des VfB Stuttgart. Schmid ist ein gefragter Mann, er kann sich seit Wochen vor Anfragen kaum retten, sein Handy klingelt regelmäßig, und am Ende dieses Abends im Vereinsheim des Stuttgarter SC beim Stadion Festwiese unweit der Mercedes-Benz-Arena wird er drei neue Mitglieder haben. Fast 100 Zugänge sind es damit seit Saisonende. „So eine Euphorie habe ich in 30 Jahren Fanclubarbeit noch nicht erlebt“, sagt er.

 

Ein paar Tage ist das schon her, als der Fanausschuss des VfB Stuttgart, jenes Gremium, das die organisierte Fanszene des Vereins gegenüber dem Club vertritt, zusammensaß. Sie alle konnten seinen Eindruck bestätigen: es gibt eine Aufbruchstimmung, sie ist schwer zu ergründen, aber sie ist da. Nun, am Sonntag (17.30 Uhr), geht es endlich los, und an ihnen, den Fans, soll es nicht liegen. Sie sind bereit.

Die Fans sind ein wichtiger Faktor. In Stuttgart, in den deutschen Stadien. Im Wettbewerb der Fußballligen ist das Zusammenspiel von Rasen und Rängen ein bedeutsamer Punkt, der für die Bundesliga spricht. Nirgends ist die Atmosphäre derzeit besser. Das Geschäft mit dem Ball boomt wie nie. Die Fans strömen in die Stadien, es werden Rekorde gebrochen – wenn auch nicht jährlich, was auch damit zu tun hat, dass Clubs mit kleineren Stadien bisweilen den Schnitt drücken, wenn im Gegenzug ein Verein mit einem großen Stadion absteigt (wie Nürnberg).

Der Hipster unter den Fußballligisten

Die Bundesliga ist nicht die reichste Liga, das ist die Premier League, aber sie hat die meisten Zuschauer: 2014/2015 sahen im Schnitt 43 500 Zuschauer die Spiele, in England waren es – bei etwas höherer Auslastung (94,4 zu 93,4 Prozent, laut transfermarkt.de), aber kleineren Stadien – 36 100, in Spanien 27 000, in Italiens und Frankreich je 22 200. Es war der zweithöchste Schnitt in der Geschichte der Bundesliga. Es ist das Erlebnis, das so viele Menschen in deutsche Stadien treibt, es ist die Atmosphäre, um die die Liga beneidet wird.

Die Bundesliga ist der Hipster unter den Fußballligen Europas. Sie ist cool, und es ist im Ausland cool, sie cooler zu finden als die eigene Liga, zumindest schwärmen Fans weltweit von der Atmosphäre. In den vergangenen Jahren ist, speziell unter britischen Fans, sogar ein Fußball-Tourismus entstanden. Ins Gelobte Fan-Land. In die Ballrepublik Deutschland. „Jahrelang sind wir ins Ausland gefahren, mittlerweile kommen ausländische Fans nach Deutschland und finden es geil “, sagt Achim Hennige vom VfB-Fanclub Cannstatter Jungs.

In britischen Zeitungen finden sich Reiseberichte über das Stimmungswunderland Deutschland. Journalisten wie Fans erzählen darin von abenteuerlichen Zuständen in deutschen Arenen. Von Fans, die in Kurven stehen, die ganze Zeit singen, auf den Rängen Bier trinken und sogar rauchen, und das alles auch noch zu erschwinglichen Preisen. Das Boulevardblatt „Daily Mirror“ nannte die Bundesliga mal „Volksfutbol“, eine Liga, in der „Fußball das wahre Spiel des Volks geblieben“ sei. Besonders beliebt sind Besuche in Dortmund wegen der Südtribüne („Gelbe Wand“), die mit einer Kapazität von rund 25 000 Menschen Europas größte Stehplatztribüne ist.

Das Geschäft mit dem Ball

Die Bundesliga gilt einigen in England als Gegenentwurf zur Premier League. Viele Fans auf der Insel kritisieren den Raubtierkapitalismus der Liga, die sich von den wahren Anhängern entfremdet habe und heute ein Upper-class-Vergnügen sei. Voll sind die Stadien dennoch, aber der Fußball hat dort jene Anhänger verloren, die sich den Besuch nicht mehr leisten können oder wollen. Der real existierende Fußball-Kapitalismus sieht dort so aus: Die billigste Dauerkarte für einen Erwachsenen gibt es bei Manchester City und kostet 299 Pfund (circa 420 Euro), das günstigste Saisonticket beim FC Arsenal liegt bei 1035 Pfund (etwa 1450 Euro). Im Schnitt bewegen sich die Vereine bei fast 750 Euro für die jeweils billigste Dauerkarte. Allerdings sind das immer Tickets für Sitzplätze, Stehplätze gibt es in den Stadien seit 1994 nicht mehr.

Zum Vergleich: in der Bundesliga kostet eine Stehplatzdauerkarte (für Vollzahler) zwischen 130 Euro (VfL Wolfsburg) und 240 Euro (Darmstadt 98), in Stuttgart liegt sie bei 198,50 Euro. Die ermäßigte Stehplatzdauerkarte für Jugendliche bis 17 Jahre kostet beim VfB diese Saison 165 Euro.

Auch die Bundesliga ist keine gemeinnützige Veranstaltung. Das Geschäft mit dem Ball ist – eben ein Geschäft. Big Business. Natürlich auch in Deutschland. Die 18 Vereine haben in der Saison 2013/2014 zusammen 2,45 Milliarden Euro umgesetzt, Tendenz steigend. Die Kommerzialisierung des Kickens hat zugenommen, und natürlich hat das Folgen für die Fans.

Der Kampf um die Balance zwischen Interessen der Vereine und Interessen der Anhänger ist ständiger Begleiter, und oft ein Reibungspunkt im Binnenklima. Die Frage der Pyrotechnik ist ein ewiges Streitthema, auch beim VfB wird gerne gezündelt, wobei es da keine Diskussionsgrundlage gibt: Pyrotechnik ist verboten, und wird verboten bleiben. Probleme gibt es immer dann, wenn wirtschaftliche Interessen aus Sicht der organisierten Anhänger die Fankultur bedrohen. Die Clubs müssen im Bestreben nach sportlicher Wettbewerbsfähigkeit ihrerseits zusätzliche Einnahmen generieren, die Anhänger auf der anderen Seite haben ihre eigene Agenda, und nicht immer sind diese Seiten deckungsgleich.

Zum Beispiel bei den Ticketpreisen. Fußball ist kein billiges Vergnügen, vor allem auf den Sitzplätzen. Aber im Vergleich zu England ist Fußball in Deutschland noch kein Vergnügen allein für Besserverdienende. Es gibt dennoch die Aktion „Kein Zwanni – Fußball muss bezahlbar sein“. Die Preise in Fankurven dürften nicht über 20 Euro steigen. „Da schmunzelt vielleicht manch einer, aber 20 Euro ist eben viel Geld für einige. Das ist eine Grenze, an der Vereine anfangen zu selektieren“, sagt Oliver Schaal von der Ultra-Gruppierung Commando Cannstatt.

Das Herz des Stadions – die Cannstatter Kurve

Fans von Borussia Dortmund haben vor diesem Hintergrund zum Boykott des BVB-Spiels in Hoffenheim aufgerufen: Wer keine der wenigen Stehplatzkarten ergattert, müsse bis zu 55 Euro zahlen. „Wir haben einfach den Eindruck, dass man beim Fan abgreift, was man abgreifen kann“, sagte BVB-Anhänger Marc Quambusch, Gründer der Kein-Zwanni-Initiative, der „FAZ“.

Die meisten Clubs sind sich angesichts der Bedeutung der Kurven für die Stimmung im Stadion, die letztlich auch verkauft wird, der Problematik bewusst. Auch beim VfB wird betont, dass der Stadionbesuch für alle Einkommensschichten bezahlbar bleiben müsse. Ein Verein braucht auch alle. Ultras. Logen. Familien. Als es 2007 auf der Hauptversammlung des FC Bayern heiß herging zwischen Vertretern der Südkurve und der Vereinsführung, tobte Uli Hoeneß: „Was glaubt Ihr, wer Euch finanziert? Die Leute aus den Logen, denen wir das Geld aus der Tasche ziehen.“

Grundsätzlich gelingt der Bundesliga der Spagat ganz gut. „Wir hoffen, dass das auch so bleibt“, sagt Oliver Schaal.

Konfliktpotenzial birgt immer der Spielplan. Die Zahl der Anstoßzeiten hat zugenommen. Ein Samstagabendspiel wurde eingeführt, ebenso zwei Sonntagspartien zu verschiedenen Uhrzeiten, um die Attraktivität fürs Pay-TV zu erhöhen. Die Spieltage in Deutschland sind aber noch nicht so filetiert wie in anderen Ländern, in der niederländischen Eredivisie etwa gibt es bis zu sieben verschiedene Anstoßzeiten pro Wochenende, in England ein Mittagsspiel für den asiatischen Markt.

Die DFL denkt nun an die Einführung von einigen Montagsspielen in der Saison 2016/2017. Damit, so das Kalkül, lassen sich zusätzliche Einnahmen generieren. „Es gibt VfB-Fans, die fahren 100 Kilometer zu den Heimspielen – das geht an Montagen natürlich nicht“, sagt Ariane Haußmann vom Fanclub Stuttgarter Mädle: „Irgendwann lässt sich Beruf und Verein nicht mehr vereinbaren.“ Man trage ja vieles mit, sagt Clemens Knödler von der Stuttgarter Ultra-Gruppe Schwabensturm ’02, aber man dürfe das nicht überstrapazieren. „Irgendwann leidet die Fankultur darunter.“

Die Cannstatter Kurve ist das Herz des Stadionerlebnisses in Stuttgart. Rund 15 000 Menschen passen rein, es ist der Maschinenraum der Stimmung. Angeleitet von den Vorsängern wird jene Atmosphäre kreiert, die im Idealfall mit dem Geschehen auf dem Rasen zu einem unvergesslichen Erlebnis führt und auf das gesamte Stadion übergreift. Es ist eine Dienstleistung der Kurve aus Liebe zum Verein.

Die aktive Fanszene ist nicht alles, aber sie ist wichtig für die Vereine. Gerade in Stuttgart wird ein entsprechend enger Austausch gepflegt, nicht nur von den heterogenen Gruppierungen in der Cannstatter Kurve untereinander (was ungewöhnlich ist und als vorbildlich gilt), sondern auch mit den Verantwortlichen im Verein.

Identifikation über Leistung statt über Namen

Stuttgarts Trainer Alexander Zorniger ist zum Beispiel auf eigenen Wunsch vor Saisonstart in den Fanausschuss gekommen und hat dort sein Spielkonzept vorgestellt. Es geht darum, die Anhänger mitzunehmen. In der Vorsaison schaute Robin Dutt regelmäßig in dem Gremium vorbei, um Wogen zu glätten und um zu verhindern, dass Verein und Kurve auseinanderbrechen. Es entstand eine Art „Schicksalsgemeinschaft“, wie Georgios Kargakis sagt, der im 2001 gegründeten Fanausschuss die Region Stuttgart vertritt. Die Kurve übte weiter Kritik an der Vereinsführung, aber sie stand hinter der Mannschaft, hinter diesem Team, in dem sie auch eine Mannschaft erkannt hatte. Der bedingungslose Support erregte europaweit Aufsehen.

Die Identifikation funktioniert dabei zunehmend seltener über einzelne Spieler. Unter den aktiven Fans in der Kurve haben immer weniger einen Namen auf dem Trikot stehen. „Natürlich tun Spieler wie Timo Baumgartl gut“, sagt Clemens Knödler. Aber dass eine Figur wie Sven Ulreich, der beim VfB groß wurde, den Verein verlassen hat, sorgt nicht für große Verstimmungen. Identifikation kommt auch über Leistung, so sehen sie das. Entscheidend ist doch, ob sich ein Spieler zerreißt und glaubhaft vermittelt, dass er sich mit dem Verein identifiziert“, sagt Ariane Haußmann.

Spieler kommen, Spieler gehen. Heute küssen sie dein Wappen, morgen ein anderes? „Letztlich sind das freischaffende Ich-AGs, die ihr Talent eben meistbietend verkaufen“, sagt Oliver Schaal. „Wir sind keine Sozialromantiker.“ So sei eben das Geschäft. Was bleibt? Die Fans. Der Verein.

Der VfB Stuttgart.