Die Spieler des VfB Stuttgart treibt momentan die Frage um, ob das völlig neue Spielsystem des Clubs der richtige Weg ist, um zum Erfolg zu kommen.

St. Gallen - Irgendwann verliert Martin Harnik den Anschluss. An einem Anstieg muss der VfB-Stürmer abreißen lassen, als er mit seinem Mitspieler Daniel Didavi und dem Teamarzt Raymond Best auf dem Mountainbike unterwegs ist. Keine Schande bei dieser Konkurrenz. Best hat sein eigenes Rennrad dabei, und Didavi gilt seit seinen vielen in Rehazentren verbrachten Verletzungspausen als Profi auf dem Ergometer. Harnik hingegen, Österreicher zwar, aber im Hamburger Flachland geboren, ist es „nicht gewohnt, den Berg hochzufahren“.

 

Neue Erfahrungen macht Martin Harnik, 28 Jahre alt und seit 2010 beim VfB, nicht nur in den Wäldern rund um St. Gallen. Noch ungewohnter ist es, was er und seine Mitspieler bei ihrer täglichen Arbeit auf dem Fußballplatz erleben. Seit ihr neuer Trainer Alexander Zorniger sich daran gemacht hat, das Spielsystem des Stuttgarter Bundesligisten zu revolutionieren, ist nichts mehr, wie es einmal war. „Wir haben absolutes Neuland betreten“, sagt Harnik, „so etwas haben wir noch nie erlebt.“

Die neue Konzeption, die Zorniger seinen Spielern seit dem ersten Trainingstag mit gewaltigem Aufwand näherzubringen versucht, sieht vereinfacht ausgedrückt so aus: Zum einen will der VfB nicht mehr über die Flügel, sondern durch die Mitte nach vorne kommen, wo in einem 4-4-2- oder 4-3-1-2-System nicht mehr nur ein Stürmer, sondern zwei die Tore schießen sollen. Und zum anderen geht es nicht um möglichst viel Ballbesitz – im Mittelpunkt steht das, was Fachleute als „Spiel gegen den Ball“ bezeichnen. Der Gegner soll gejagt und zu Fehlern gezwungen werden, die der VfB überfallartig ausnutzen will.

Zorniger will Überfallfußball auf die Spitze treiben

Borussia Dortmund hat in den ersten Jahren unter Jürgen Klopp so gespielt; auf ganz ähnliche Weise mischte Bayer Leverkusen unter Roger Schmidt zu Beginn der vergangenen Saison die Liga auf, ehe der Spielaufbau zunehmend kontrollierter wurde. Zorniger will mit dem VfB noch einen Schritt weiter gehen und den Überfallfußball auf die Spitze treiben. „Ich glaube, dass wir noch einmal eine Schippe drauflegen, was das Tempo und die Aggressivität betrifft“, sagt Harnik. Vergleichbares habe es in der Liga noch nicht oft gegeben, wahrscheinlich noch nie.

Es ist ein sehr gewagtes Unterfangen, das weiß auch Martin Harnik. Mit dem Spiel über die Außen, mit den schnellen Filip Kostic und Harnik selbst, ist der VfB in der Endphase der vergangenen Saison plötzlich zu ungeahnter Form aufgelaufen. Mit diesem Gefühl der neuen Stärke haben sich die Spieler in den Urlaub verabschiedet – „der positive Abschluss ist in unseren Köpfen hängen geblieben“, sagt Harnik. Es wäre daher sicher auch eine Möglichkeit gewesen, „unser altes 4-2-3-1-System beizubehalten und zu verfeinern“.

An einer gewissen Skepsis der kompletten Neuausrichtung gegenüber fehlt es also nicht. Noch größer aber ist im Mannschaftskreis die Hoffnung, dass Zorniger weiß, was er da tut, auch wenn er noch nie in der Bundesliga gearbeitet hat. „Man muss sich darauf einlassen, man muss dem Trainer vertrauen“, sagt Harnik, „denn wenn wir alles hinterfragen würden, wäre es von Beginn an zum Scheitern verurteilt.“

Harnik will „endlich wieder Spaß am Fußball haben“

Gute Momente gab es bislang im Verlauf der Vorbereitung, das 6:3 gegen Pilsen etwa, als der VfB bereits andeutete, wie das neue Tempospiel nach vorne im Idealfall aussehen kann. Schlechte waren aber auch dabei – beim 1:4 gegen Bern wurde die Vorwärtsverteidigung böse bestraft, „da waren wir ratlos und fanden keine Lösungen mehr“, sagt Harnik. Solche Erfahrungen sind Teil des Lernprozesses, der auch die ersten Bundesligaspieltage überdauern könnte. Er habe das Gefühl, sagt Zorniger, „dass das Gebilde bereits stabil genug ist, um auch eine Niederlage auszuhalten“.

Allzu lange sollte es nicht dauern – denn nicht nur Harnik hat in seinem vorerst letzten Vertragsjahr die große Sehnsucht, mit dem VfB endlich nach oben zu kommen. Eine Verlängerung hat der 28-Jährige bislang abgelehnt, weil er erst sehen will, wie sich die Dinge diesmal entwickeln. „Ein bisschen abgestumpft“ sei er nach den Jahren des Abstiegskampfes und will „endlich wieder Spaß am Fußball haben“. Spielsystem hin oder her – „was über allem steht ist der Erfolg. Wir wir dazu kommen, ist egal.“