Schneller, höher, weiter – immer sollen wir einen Gang höher schalten, auch beim Denken. Redakteurin Kathrin Wesely rät zu einem anderen Ansatz und erklärt, warum Tagträumen gut für unser Gehirn ist.

Stuttgart - Eine Minute lang Nichtstun kann nervös machen. Dazu forderte Kathrin Wesely, Redakteurin dieser Zeitung, die rund 80 Besucher im Treffpunkt Rotebühlplatz auf. Als Einstieg in ihr Thema: Im VHS-Pressecafé der Reihe Stuttgarter Zeitung direkt hat sie über „Langsamkeit als neue Tugend“ gesprochen. „Jahrzehnte übten wir uns im Höher, Schneller, Weiter, plötzlich sollen wir einen Gang runter schalten – beim Essen, Sport und Konsumieren. Slow-Food, Slow Media, Slow Travel, Slow Business. Eine Slow-Think-Bewegung gibt’s indessen nicht. Beim Denken sollen wir das alte Tempo beibehalten, ja einen Zahn zulegen“, sagte Wesely. Erwartet werde, dass man zeitnah Mails und SMS beantworte, Nachrichten beobachte, Mailboxes abhöre – und „dabei noch arbeitet“. Nach Untersuchungen aus den USA wird jemand, der am Computer tätig ist, durchschnittlich alle 45 Sekunden unterbrochen. Vor zehn Jahren waren es alle drei Minuten. „Ist da konzentrierte Arbeit noch möglich? Es liegt auf der Hand, dass das nicht ewig gut gehen kann“, so Wesely.

 

Physische Schmerzen werden der Langeweile vorgezogen

Die Crux: Der Mensch sei auf Effizienz getrimmt. Selbst in den Augenblicken des Luftholens, etwa beim Schlange stehen, zückten fast alle ihre Smartphones. Viele Menschen hätten heute das Warten verlernt, so die Journalistin. „Es hat gesellschaftlich keinen guten Stand, ist als Zeitverschwendung verschrien. Alles scheint den Leuten lieber zu sein, als Löcher in die Luft zu starren. Als wäre Nichtstun Höchststrafe.“ US-amerikanische Psychologen der University of Virginia führten 2015 mit College-Studenten ein Experiment durch, bei dem Probanden 15 Minuten lang nichts tun sollten. Ohne Smartphone, aber mit Elektroschocker ausgestattet, versetzten sich zwölf von 18 Männern aus Langeweile mindestens einmal einen Elektroschock – und sechs von 24 Frauen. „So tief wird das Warten verachtet, dass Menschen ihm gar physische Schmerzen vorziehen“, berichtete die Redakteurin.

Dabei schritten Menschen, die dem Nichtstun systematisch auswichen, geistiger Verödung entgegen. Was Philosophen seit bald 2000 Jahren wüssten, könnten Hirnforscher und Kognitionswissenschaftler längst belegen: „Der Mensch braucht ab und zu den Leerlauf, um das Oberstübchen aufzuräumen.“ Das Gehirn ruhe nie, bedürfe 20 Prozent der Körperenergie – beim Tagträumen und Langweilen noch ein bisschen mehr. So entdeckte der US-amerikanische Neurowissenschaftler Marcus Raichle Hirnregionen, die in Ruhephasen leuchten. Dieses „System“ nannte er „Default Mode Network“. Das Leerlaufnetzwerk oder der Ruhemodus springt dann an, wenn das Gehirn kaum oder gar nicht beansprucht wird. So manchem Genie wie Albert Einstein flogen dann die Ideen zu. „Beim tatenlosen Warten oder bei einfachen Routineverrichtungen wie Joggen oder den Geschirrspüler ausräumen, nimmt sich der mentale Autopilot unserer Sache an“, so Wesely. Ungeklärt ist, warum. Die einen meinen, dass sich im Default-Netzwerk das Ich forme. Für Raichle indes ist es ein Versuchslabor. „Wir organisieren unser Wissen, wir reflektieren Vergangenheit und Gegenwart – und spielen anhand unserer Erkenntnisse die Zukunft durch.“

Einfach mal Löcher in die Luft starren

Das regte zu einer Diskussion über die Vor- und Nachteile des Smartphones und ständiger Erreichbarkeit an. „Mir gefiel ihr Walter Benjamin-Zitat“, so eine Besucherin: „Die Langeweile ist die Schwelle zu großen Taten“. Moniert wurden seitens der Besucher Eltern, die ihren Kindern schon mit sechs ein Handy kauften, aber es wurden auch Lanzen für die tolle Jugend von heute gebrochen: „Eine Generationenfrage – neue Technologien haben auch Vorteile.“ Worauf Kathrin Wesely schmunzelnd sagte, dass keiner das Handy abgeben müsse. „Ich wollte nur anregen, mal Löcher in die Luft zu starren.“