Videoüberwachung gefordert Polizei sagt: Böblinger Bahnhof ist kein Kriminalitätshotspot

Die Polizei sieht keine Notwendigkeit, den Bahnhof als Kriminalitätshotspot einzustufen. Keiner müsse dort Angst haben. Foto: Eibner-Pressefoto

An dieser Frage schieden sich im Gemeinderat jüngst die Geister – bei genauerem Hinsehen wirken die Kriminalitätszahlen nämlich weniger dramatisch als gedacht.

Böblingen: Anke Kumbier (ank)

Ist der Bahnhof in Böblingen ein Kriminalitätshotspot? Wie lassen sich die Zahlen der Kriminalitätsstatistik interpretieren? Und was kann man tun, damit sich Menschen dort sicherer fühlen? Über diese Fragen hat der Böblinger Gemeinderat am Mittwochabend intensiv diskutiert.

 

Anlass war ein Antrag der CDU-Fraktion von 2023 am und rund um den Bahnhof Videoüberwachung einzuführen. Die Stadtverwaltung erteilte diesem Anliegen aus rechtlichen Gründen eine Absage. Videoüberwachung sei nur an Orten möglich, die als Kriminalitätsschwerpunkt gelten, erklärte Ordnungsamtsleiterin Gisa Gaietto. Das treffe auf den Böblinger Bahnhof nicht zu.

Warum nicht? Um diese Frage zu beantworten, waren Ludwig Haupt, der Leiter des Böblinger Polizeireviers, und sein Kollege Klaus Bürkle, Bezirksdienstleiter, in der Sitzung. Sie ordneten die Zahlen der Kriminalitätsstatistik ein. Auf den ersten Blick scheinen die Daten nämlich das Unsicherheitsgefühl vieler Menschen zu bestätigen. Im Bahnhofsviertel verzeichnet die Polizei die höchste Zahl an Straftaten, und die sind von 2023 auf 2024 um 10,4 Prozent angestiegen.

Genaues Hinschauen wichtig

Allerdings relativieren sie sich bei genauerem Hinsehen. Den größten Posten rund um den Bahnhof stellen Diebstähle dar. Aber nicht etwa, weil dort so viele Taschendiebe unterwegs sind, sondern weil das Einkaufszentrum Mercaden in die Statistik zum Bahnhofsviertel zählt. Bei den sogenannten Rohheitsdelikten, zu denen auch Körperverletzungen gehören, liegt das Bahnhofsviertel hingegen nicht auf dem ersten Platz. Diesen zweifelhaften „Erfolg“ darf das Quartier Grund für sich verbuchen. Während die Polizei 2024 im Bahnhofsviertel 140 (2023: 110) Rohheitsdelikte gezählt hat, waren es im Grund 171 (2023: 120). Allerdings sind in beiden Quartieren die Fallzahlen gestiegen.

Klaus Bürkle kennt das Böblinger Bahnhofsquartier seit Mitte der 1990er Jahre. Rund um den Bahnhof habe sich aus polizeilicher Sicht vieles zum Besseren gewendet, sagte er. „Anfangs gab es dort noch eine Kneipenszene, teils mit Gestalten, die man dort nicht haben möchte.“

CDU mit Antwort nicht zufrieden

Die Gefahr einfach so am Böblinger Bahnhof körperlich angegriffen zu werden, sei gering. „Als Unbeteiligter am Bahnhof verprügelt zu werden, ist fast auszuschließen“, sagte Bürkle. Die meisten Streitigkeiten entstünden zwischen Menschen, sie sich kennen. Deshalb sei auch die Aufklärungsrate bei den sogenannten Rohheitsdelikten am Bahnhof mit 88 Prozent sehr hoch.

Der CDU-Fraktionsvorsitzende Thorsten Breitfeld gab sich mit den Ausführungen jedoch nicht so leicht zufrieden. Die CDU sehe am Bahnhof nach wie vor einen Kriminalitätshotspot, sagte er. 28 Prozent der Straftaten entfielen dort auf 5 Prozent der Stadtfläche. Außerdem sei Böblingen an sich unsicherer geworden. Die sogenannten Häufigkeitszahl von 7602 Delikten pro 100 000 Einwohner liegt in Böblingen weit über dem Landesschnitt von 5180. Ebenso sei die Zahl der Verbrechen in den vergangenen fünf Jahren in Böblingen um 50 Prozent gestiegen.

Der drastische Anstieg lasse sich mit den niedrigen Fallzahlen während der Coronapandemie erklären, wandte Haupt ein. Hinzu komme: Die Polizei sei rund um den Bahnhof präsenter als anderswo, allein dadurch steige die Zahl der erfassten Delikte. Haupts Fazit lautete: Bei rund 30 000 Menschen, die täglich den Bahnhof passieren, seien die Zahlen „absolut ortsüblich“ und gäben die Notwendigkeit einer Videoüberwachung „einfach nicht her“. Unklar blieb allerdings, wie viele Vorfälle es möglicherweise gibt, von denen die Polizei nichts mitbekommt.

Was bringt Videoüberwachung?

In der anschließenden Diskussion stand vor allem das Für und Wider von Videoüberwachung im Mittelpunkt – und der Wunsch, des gesamten Gremiums das Sicherheitsgefühl am Bahnhof zu steigern. Ob Kameras dazu beitragen können, schien zumindest Revierleiter Haupt zu bezweifeln. Dazu gebe es Studien mit unterschiedlichen Aussagen. „Wollen wir wirklich das Bild transportieren, dass Böblingen Videoüberwachung braucht?“, gab er außerdem zu bedenken.

Auch der Einfluss von Kameraüberwachung auf die Zahl der Straftaten scheint fraglich zu sein. Zwar helfen Kameras, Täter zu überführen, sagte Haupt. Präventiv zeigten sie jedoch kaum Wirkung. Die Straftaten verlagerten sich lediglich in unbeobachtete Ecken. Die beste Prävention stellen aus Haupts Sicht andere Menschen dar. „Dann steigt auch die gefühlte Sicherheit.“

Oberbürgermeister Stefan Belz (Grüne) fasste die Debatte schließlich zusammen: „Uns eint, dass wir ein sicheres Böblingen wollen.“ Aber: „Wir haben unterschiedliche Meinungen, wie man dorthin kommt.“ Und so stand am Ende ein Kompromiss, mit dem alle leben konnten. Die Verwaltung wurde beauftragt, ein Konzept zu erstellen, um das Sicherheitsgefühl am Bahnhof zu steigern – Kameras sollen als Teil dieses Konzepts zumindest noch einmal diskutiert werden.

Kameraüberwachung im öffentlichen Raum

Rechtliche Hürden
Bei der Videoüberwachung im öffentlichem Raum gelten höhe Hürden. Die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen müssen gegen die Notwendigkeit einer Kameraüberwachung abgewogen werden. Dementsprechend ist eine Überwachung nur möglich, wenn ein Ort als Kriminalitätsschwerpunkt identifiziert wurde.

Andere Städte
Mannheim testet derzeit als Pilotprojekt eine intelligente, von KI unterstütze, Videoüberwachung. Stuttgart darf seit der Krawallnacht Kameras einsetzen, aber nur am Wochenende zu bestimmten Zeiten. In der Zwischenzeit gibt es allerdings auch kleinere Städte die auf Videoüberwachung setze. Dazu zählen beispielsweise Tuttlingen und Ravensburg. Ravensburg hat erst diesen Februar nach mehreren heftigen Vorfällen den Bahnhof zum Kriminalitätsschwerpunkt erklärt und Kameraüberwachung eingeführt.

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