„Weniger reden, mehr machen“: Der Tournee-Sieger von 2001/2002, Sven Hannawald, über die Chancen und den Druck, der bei diesem speziellen Wettbewerb auf den deutschen Skispringern lastet.

21 Jahre ist es her, seitdem Sven Hannawald als deutscher Skispringer die Vierschanzentournee gewonnen hat. Damals, im Winter 2001/2002, brachte er zudem das Kunststück fertig, als erster Springer der Geschichte alle vier Tournee-Springen einer Auflage zu gewinnen – in Oberstdorf, Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen. Heute ist er 48 Jahre alt und bewertet für die ARD die wichtigsten Skisprung-Wettbewerbe. Mit uns hat Hannawald über die deutschen Chancen bei der 71. Auflage dieses Grand Slams gesprochen.

 

Warum haben die sonst so erfolgreichen deutschen Skispringer seither die Vierschanzentournee nie mehr gewonnen?

Ich glaube, sie kommen mit dem Druck nicht zurecht. Die Tournee ist auch kein Tagesereignis wie eine Weltmeisterschaft, sondern die Anspannung zieht sich über zehn Tage. Die Vierschanzentournee ist nun mal das größte Highlight im Skispringen, da schaut ganz Deutschland drauf. Die Erwartungen sind entsprechend groß und das Medieninteresse ungewöhnlich hoch. Das zu ignorieren und die Sache einfach laufen zu lassen, fällt den deutschen Springern offenbar sehr schwer.

Obwohl es die deutschen Skispringer in den vergangenen Jahren immer versucht haben . . .

Der ehemalige Bundestrainer Werner Schuster hat etwa versucht, den Stress im Sommer zu simulieren, und ist mit seinem Team auf allen vier Tournee-Schanzen nacheinander gesprungen. Das Problem: Es haben die zahllosen Medienstationen und Tausende von Zuschauern gefehlt – und damit der Druck, der nun mal mit der Tournee verbunden ist. Für meine Begriffe wird manchmal alles zu sehr verkompliziert. Das Motto muss heißen: weniger reden und mehr machen.

Gibt es in diesem Winter einen klaren Favoriten für den Tournee-Gesamtsieg?

Der Pole Dawid Kubacki ist der, nach dem alle schauen. Er hat etwas gefunden, das ihn momentan ein Stück vor die anderen bringt. Kubacki hat die Fehler im Bereich Absprung und Übergang in den Flug ausgemerzt. Er bringt mit seinen langen Hebeln körperlich alles mit, und wenn er diese Vorzüge effektiv einsetzt, wird es für die Konkurrenz sehr schwer. Zudem hat er die Tournee schon einmal gewonnen und kann also auch vom Kopf her locker herangehen. Kubacki ist für mich der klare Favorit.

Wer kann Kubacki am ehesten gefährden?

Der Norweger Halvor Egner Granerud und Anze Lanisek aus Slowenien könnten ihn herausfordern. Danach kommt eine ganze Reihe von erfahrenen Springern wie etwa Stefan Kraft. Die Österreicher werden immer stärker, wenn sie die Tourneeluft schnuppern. So, als hätten sie fünf Energieriegel gefuttert. Zum erweiterten Favoritenkreis zählt natürlich auch Karl Geiger. Er war ja zuletzt mehrmals auf dem Podest, ihm hat am Ende nur das nötige Quäntchen Glück gefehlt. Karl geht seinen Weg.

Woran fehlt es noch bei Doppel-Olympiasieger Andreas Wellinger?

Andreas Wellinger war schon im Sommer super, ist Deutscher Meister geworden. Allerdings hat man dann beim Weltcup-Auftakt gesehen, dass das deutsche Team ein Stück von der Weltspitze weg war. Bei Andreas hängt alles am Absprung. Wenn es am Tisch richtig passt, ist er bei Einzelsprüngen schon vorn dabei. Er muss das aber regelmäßig schaffen. Auf den Tag X zu hoffen, an dem der Knoten plötzlich platzt, ist keine gute Idee. Er muss da nach all seinem Verletzungs- und Krankheitspech langsam wieder reinwachsen in die Topleistungen.

Was ist das Problem bei Markus Eisenbichler?

Markus hatte diesmal einen anderen Aufbau und hat deutlich mehr Krafttraining gemacht. Deshalb fehlte zu Saisonbeginn noch das Feingefühl. Aber wenn das zurückkehrt, kann er gefühlt jederzeit zuschlagen.

Sie haben damals bei Ihrem Triumph vor 21 Jahren sehr viel Geld verdient. Heutzutage gibt es weniger als damals . . .

Im vergangenen Winter wurde das Preisgeld für den Gesamtsieger ja auf 100 000 Schweizer Franken aufgestockt. Das ist ein guter Schritt! Aber man kann die Zeit halt nicht zurückdrehen. Damals zu meiner Zeit waren die Einschaltquoten noch höher als heute. Trotzdem ist es nicht nachvollziehbar, dass es für einen Einzelsieg bei einem Tourneespringen das gleiche Preisgeld wie bei einem normalen Weltcup gibt. Schließlich ist der Stellenwert der Tournee deutlich höher.

Sie sind jetzt 48. Was passiert eher: Dass ein deutscher Skispringer die Tournee gewinnt oder Sie in Rente gehen?

Ich habe ja immer gesagt, dass wir in der Ära von Bundestrainer Horngacher einen deutschen Tourneesieger erleben werden. Ich bin von seiner Arbeit überzeugt. Es liegt definitiv nicht am Trainerteam! Stefan Horngacher hat es in seiner Zeit als Cheftrainer in Polen geschafft, einen Flieger wie Kamil Stoch zum Tournee-Gesamtsieger zu machen. Am Ende sitzen die Springer oben auf der Schanze und müssen es richten. Stef arbeitet akribisch, in jedem Bereich. Deshalb wird der deutsche Tourneesieg passieren, bevor ich in Rente gehe – deutlich davor.

Skisprungexperte

Ausnahmetalent
 Sven Hannawald (48) gewann als erster Sportler 2002 alle vier Springen der Vierschanzentournee. Er ist zudem vierfacher Weltmeister und Olympiasieger im Team. 2005 beendete er seine Karriere, nachdem er an Burn-out erkrankt war.

TV-Experte
 Seit dem Jahr 2016 arbeitet der gebürtige Sachse als Skisprungexperte fürs Fernsehen, zunächst für Eurosport, heute für die ARD.