Viktoriia Vitrenko in Stuttgart Ein Projekt für Maria Kalesnikava

Sängerin, Pianistin, Dirigentin, Performerin: Viktoriia Vitrenko Foto: Oliver Röckle

Die Sängerin, Pianistin und Dirigentin Viktoriia Vitrenko ist eine Weggefährtin der inhaftierten belarussischen Musikerin und Aktivistin Maria Kalesnikava. Ihr hat Vitrenko das Projekt „Limbo“ gewidmet, das im Rahmen des Stuttgarter Eclat-Festivals für zeitgenössische Musik aufgeführt wird. Ein Themenschwerpunkt des Festivals ist die Situation in Belarus.

Stuttgart - Kann man mit künstlerischen Projekten die von Autokraten und Kriegsgefahr geprägte Situation in Osteuropa verbessern? Womöglich sogar der in Belarus inhaftierten Künstlerin und Bürgerrechtlerin Maria Kalesnikava helfen? Fragen an die Sängerin und Dirigentin Viktoriia Vitrenko.

 

Frau Vitrenko, beim diesjährigen Eclat-Festival in Stuttgart sind Sie prominent mit gleich zwei Projekten vertreten. Worum geht es?

Die Video-Musik-Installation ist der dritte Teil der Reihe „Echoes – Voices from Belarus“, die von belarussischen und europäischen Künstlerinnen und Künstlern gemeinsam gestaltet wird. In Bildern, Texten und Klängen thematisieren wir persönliche Traumata, die durch das politische Geschehen in Belarus entstanden sind. Wir wollen das Publikum dazu anregen, sich mit der Situation dort auseinanderzusetzen.

Ihr zweites Projekt, „Limbo“, ist ganz allein Ihr Projekt. Limbus ist in der Theologie die Vorhölle, also ein Un-Ort zwischen Himmel und Hölle. Was werden Sie zeigen?

Der theologische Begriff beschreibt einen unwirklichen Schwebezustand, und darum geht es auch in „Limbo“. Wobei hier verschiedene Schwebezustände ineinanderfließen. Zunächst einmal ist das die Zeit des Corona-Lockdowns 2020, in der das Projekt entstand. Aus dem Gefühl des Eingesperrtseins und der Einsamkeit heraus entstand die Idee, dass ich mich auf der Bühne ganz alleine am Klavier begleite. Außerdem geht es um die politische Situation in Belarus wie auch in meinem eigenen Heimatland, der Ukraine. Das Projekt ist Maria Kalesnikava gewidmet, weil wohl keine und keiner von uns diesen „Limbo“ so empfindet wie sie jetzt in ihrer Einzelzelle im Frauengefängnis.

Welche Musik wird dabei zu hören sein?

Ich habe die Komponisten gebeten, so einfach, so intim und so verständlich zu schreiben wie möglich – auch wenn ich nicht weiß, ob diese Neue Musik dann überhaupt wahr- und ernst genommen wird und ob dieses Einfache dann noch zu der Komplexität dessen passt, was es spiegeln soll. Zu hören sind Kunstlieder, Rock und Pop. Ich will das klassische Genre öffnen.

Muss Kunst bei Ihnen immer eine politische Aussage haben?

Für einen Menschen mit meinem osteuropäischen Hintergrund sind Kunst und Politik nicht voneinander zu trennen, und für mich wirkt Musik in Verbindung mit anderen Genres besonders stark. Das ist auch die Grundidee der Initiative Interakt, die ich zusammen mit Maria Kalesnikava gegründet habe – als Netzwerk und als eine offene Gedankenplattform, die neue Formate entwickelt und mit diesen rausgehen will aus den konventionellen Sparten und Aufführungssituationen.

Haben Sie zurzeit Kontakt mit Maria Kalesnikava?

Seit ihrer Verurteilung habe ich ihr regelmäßig Briefe geschrieben, aber es kam noch nichts zurück. Ich weiß nicht einmal, ob meine Briefe je bei ihr angekommen sind. Nur die Anwälte haben ein paar Sätze gesagt, die viel Raum lassen für Interpretationen. Ich realisiere das „Limbo“-Projekt, weil ich an Maria denke. Ich hoffe, dass sie auf irgendeine Weise davon erfährt und dass ihr das ein bisschen Wärme vermittelt.

Glauben Sie, dass Kunst etwas bewirken kann?

Kunst kann eine Rückmeldung dazu geben, was alles nicht stimmt in der Welt. Vor allem mit musikalischen und theatralischen Mitteln können wir Dinge offen ansprechen, die sonst nicht wahrgenommen würden, weil man sie verschweigt. Kunst kann auch zeigen, dass man Dinge aus einer anderen Perspektive anschauen kann als aus der, die von der Politik vermittelt wird. Und Kunst kann auch schlicht Aufmerksamkeit wecken.

Sie treten regelmäßig auch in der Ukraine auf. Wie empfinden Sie die Situation dort?

Die Menschen leben seit 2015 mit dem Kriegszustand. Jetzt ist die Situation zugespitzt, weil der Präsident verkündet hat, auch die Frauen würden zum Militär eingezogen. Ich war im Dezember in Kiew beeindruckt von der Gelassenheit der Menschen dort und von ihrem Leben im Augenblick. Sie alle wissen, schon am nächsten Tag kann alles anders sein. Man hat sich daran gewöhnt, mit diesem Zustand zu leben.

Haben Sie Hoffnung, dass sich etwas ändert?

„Limbo“ und die Interakt-Initiative sind getragen von der Überzeugung, dass Dialog eine Lösung ist. Jedes Kunstgenre hat eine andere Arbeitsweise, und das Zusammenwirken ist ein Lernprozess für alle. Wir müssen neue Ohren schaffen, und wir brauchen viel Geduld. Dann können wir das beenden, was zum Schmerzhaftesten in unserem Leben gehört: warten, ohne zu wissen, ob und wie dieser Schwebezustand endet.

Da kommt einem Kirill Serebrennikows ewiger Hausarrest in den Sinn.

Ja, das ist auch eine Art von Folter. Diese Situation kann einen Menschen vernichten.

Info: Vitrenko, Kalesnikava und das Eclat-Festival

Künstlerin
Die vielfach ausgezeichnete ukrainische Sängerin und Dirigentin Viktoriia Vitrenko (31) vertiefte bei ihrem Studium in Stuttgart ihren Schwerpunkt in Richtung zeitgenössische Musik. Gemeinsam mit Maria Kalesnikava gründete sie 2017 die Künstlerinitiative Interakt. Vitrenko lebt in Stuttgart.

Oppositionelle
Die in Minsk und Stuttgart ausgebildete Flötistin und Kulturmanagerin Maria Kalesnikava begleitete den Wahlkampf der oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Swetlana Tichanowskaja und Viktor Babarika in Belarus und engagierte sich in den friedlichen Protesten gegen den autokratisch regierenden Amtsinhaber Alexander Lukaschenko. Nachdem sich Kalesnikava ihrer Ausweisung widersetzt hatte, wurde sie 2021 zu elf Jahren Haft verurteilt.

Festival Das Stuttgarter Eclat-Festival für zeitgenössische Musik ist mit 21 Veranstaltungen in diesem Jahr so umfangreich wie noch nie zuvor. Es beginnt an diesem Dienstag mit der Performance-Installation „Echoes – Voices from Belarus“ in der Hospitalkirche und endet am Sonntag, 6. 2., im Theaterhaus. Geboten werden 30 Uraufführungen u. a. von Chaya Chernowyn, Carlola Bauckholt, Annesley Black, Saed Haddad, Isabel Mundry und Gordon Kampe. Sämtliche Veranstaltungen finden sowohl live als auch via Stream im Internet statt. Infos/Karten: www.eclat.org.

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