Klaus-Peter Murawski liebt nicht nur seine Arbeit, sondern auch seinen Arbeitsplatz. Der ist historisch spannend, denn in der Villa Reitzenstein wurden nicht nur wichtige politische Entscheidungen für den Südwesten getroffen.

Stuttgart - Klaus-Peter Murawski (Grüne) ist ein Mensch, der andere mit seiner Begeisterung anstecken kann. Dies wurde am Samstag in der Villa Reitzenstein deutlich, dem Amtssitz von Ministerpräsident Winfried Kretschmann und dem Arbeitsplatz seines Staatssekretärs. Murawski berichtete dort beim Stadtspaziergang, den die Stiftung Geißstraße und die StZ organisiert hatten, kurzweilig von der Geschichte des Hauses. Es ist der letzte Stadtspaziergang in diesem Jahr gewesen.

 

Murawski liebt Arbeit und Arbeitsplatz

Als Chef der Staatskanzlei ist Murawski unter anderem dafür verantwortlich, dass die dienstäglichen Kabinettssitzungen der Landesregierung höchstens drei Stunden dauern. Sein Tun macht Murawski nach eigenem Bekunden viel Spaß, „denn das Interessante ist, dass ich schlechthin alles mitbekomme, was in der baden-württembergischen Landesregierung passiert“. Vor seiner Tätigkeit in der Villa Reitzenstein war er von 1996 bis zum Mai 2011 in Stuttgart als Bürgermeister für allgemeine Verwaltung und Krankenhäuser tätig.

Murawski liebt nicht nur seine Arbeit, sondern auch seinen Arbeitsplatz. Der ist historisch spannend, denn in der Villa Reitzenstein wurden nicht nur wichtige politische Entscheidungen für den Südwesten getroffen. Auch die Vorbereitungen „für die Gründung der Bundesrepublik Deutschland West“, so Murawski, fanden dort nach dem Zweiten Weltkrieg statt. Der US-amerikanische Militärgouverneur, General Lucius D. Clay, hatte hier den Länderrat einberufen. Ebenso wurde in der Villa Reitzenstein 1983 vom damaligen deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und seinem italienischen Amtskollegen Emilio Colombo der Stuttgarter Vertrag, eine feierliche Erklärung im Rahmen der Einheitlichen Europäischen Akte, ausgearbeitet und unterzeichnet – ein Grundstein der heutigen Europäischen Union. „Die Villa Reitzenstein ist ein Ort der Startschüsse“, so Murawski beim Gang durch die ehrwürdigen Mauern des Gebäudes, das „eher einem Loire-Schlösschen nachempfunden ist“, als dass es einer Villa des frühen 20. Jahrhunderts entspricht.

Der Bunker dient heute als Lagerraum

Für drei Millionen Goldmark hat die Baronin Helene von Reitzenstein, Tochter des Stuttgarter Verlegers Eduard Hallberger, das repräsentative Gebäude in Erinnerung an ihren 1897 verstorbenen Gatten, den Hofmarschall Carl Sigmund Felix von Reitzenstein, errichten lassen. Sie selbst lebte nach der Fertigstellung nur neun Jahre in der Villa und verkaufte das Anwesen mit dem von Carl Eitel gestalteten Garten, der bis heute in seiner Form erhalten ist, 1922 an das Land. „Der Erwerb war ein Schnäppchen“, sagte Murawski.

In den Nazijahren residierte in der Villa der damalige Gauleiter und spätere Reichsstatthalter Wilhelm Murr, der auch einen Bunker und einen Fluchtstollen in Richtung Bahnhof unter dem Gebäude bauen ließ. Der Bunker dient heute als Lagerraum. Dass die Villa nach Murrs Flucht nicht – wie von ihm befohlen – gesprengt wurde, sei einem Ministerialrat namens Karl Benz zu verdanken.

Murawski führte die Teilnehmer des Stadtspaziergangs über das gesamte Anwesen mit einer Liebeslaube, einem Biotop mit Teich, einem Insektenhotel und einem Rosengarten. Das Anwesen sei ganz gezielt „am Hang des Bopsers“ angelegt worden, damit man „auf die Württemberger herabblicken kann“, denen der Verleger Hallberger alles andere als zugetan gewesen sei.

Der Staatssekretär erzählte bei dem Rundgang viele Anekdoten. Auf Nachfrage Johannes Millas, dem Vize-Vorsitzenden des Stiftungsrats der Stiftung Geißstraße, ging er auch auf die Unterzeichnung des Vertrags zum Rückkauf von EnBW-Anteilen von der französischen Gesellschaft Électricité de France (EDF) durch den damaligen Ministerpräsidenten Stefan Mappus ein. Diese Unterzeichnung habe – Aussagen von Zeugen zufolge – in gelöster Atmosphäre bei Rotwein in Mappus’ Arbeitszimmer stattgefunden und nicht im sonst für solche Anlässe genutzten Gobelinsaal, im Eckzimmer oder in der Bibliothek. Diese ist laut Murawski „der schönste Raum“ der Villa Reitzenstein. Sie war von 1928 bis 1933 auch das Arbeitszimmer von Staatspräsident Eugen Bolz. Ihm ist der kürzlich eingeweihte neue Anbau gewidmet.